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Medizin: Das Ende von Asperger

Psychiater diskutieren, ob die Störung in Zukunft als Autismus bezeichnet werden sollte

Da ist dieser Schmerz, der mit den Menschen kommt. Immer wenn sie zu nah an ihr vorbeigehen, fühlt es sich an wie Messerstiche. Lange dachte Gabriele Fürst (Name geändert), dass sei normal. Sie hat sich gewundert, wie sich andere Menschen durch Einkaufsstraßen drängen. Das müsste kaum auszuhalten sein.

Fürst, 32 Jahre alt, leidet unter dem Asperger-Syndrom, einer Entwicklungsstörung, die gemeinhin als leichte Form des Autismus definiert wird. Der Schmerz, der mit der Nähe kommt, ist nur eines der Symptome. Es sind nicht selten große Talente, denen große soziale Defizite gegenüberstehen. Sie kann Musikstücke auf dem Klavier nachspielen, nachdem sie sie einmal gehört hat, ohne jemals Klavierspielen oder Notenlesen gelernt zu haben. Sie singt in einem klassischen Chor, auch vor Publikum. Aber mit zwischenmenschlichem Kontakt, mit Einfühlungsvermögen hat sie Probleme.

Fürst hat nie geweint. Sie kennt diese Emotion nicht. Es war eine Erleichterung für die Familie, als ihre Schwester ein Buch über Asperger mitbrachte und vieles aus diesem Buch auf Gabriele Fürst zutraf. Es war die Erklärung.

Doch die Krankheit Asperger könnte bald aus den medizinischen Wörterbüchern verschwinden. Nicht weil es sie nicht mehr gibt, sondern weil sie anders heißen wird. Sie soll unter dem Autismusspektrum zusammengefasst werden. Das diskutiert die American Psychiatric Society (APA). Sie gibt einen wichtigen Leitfaden für psychische Erkrankungen heraus, das Diagnostische und Statistische Manual der mentalen Störungen (DSM). Dieses Handbuch wurde 1952 erstmals veröffentlicht und seitdem regelmäßig neu aufgelegt. Es werden Diagnosen zusammengefasst, hinzugefügt oder gestrichen. So wurde 1974 Homosexualität als Verhaltensstörung gelöscht.

Um Krankheiten unterscheidbar, vergleichbar und damit behandelbar zu machen, müssen sie eindeutig definiert werden. Wenn eine Ursache ausgemacht werden kann, ist das einfach: Aids ist die Krankheit, die durch das Immunschwächevirus HIV ausgelöst wird. Selbst bei einigen psychischen Krankheiten trifft das zu. Das Rett-Syndrom, eine schwere Entwicklungsstörung, wird durch die Mutation eines Gens hervorgerufen.

Bei vielen anderen psychischen Erkrankungen wie dem Asperger-Syndrom ist die Ursache aber oft noch nicht eindeutig gefunden oder es gibt verschiedenen Ursachen, die ähnliche Symptome auslösen. Die Definition ist schwierig. Daher behilft man sich mit Kategorisierungssystemen: Wenn der Patient das, das und das Symptom hat, hat er diese Störung. Zwei wichtige solcher Systeme gibt es: die Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Diagnosehandbuch DSM der APA.

Die APA unterscheidet nur Autismus und Asperger. Laut WHO hingegen gibt es vier Krankheiten, die unter das Autismusspektrum fallen: frühkindlicher Autismus, hochfunktionaler Autismus, das Asperger-Syndrom und atypischen Autismus. Sie unterscheiden sich in Ausprägung und Häufung bestimmter Syndrome. So kann ein Autist laut Definition nicht sprechen. Ein hochfunktionaler Autist hat erst um das vierte Lebensjahr angefangen zu sprechen, und Menschen, die unter dem Asperger-Syndrom leiden, sprechen oft gestelzt, als Kinder schon wie Erwachsene.

Außerdem haben sie Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Ihre Blicke weichen aus, sie können keinen Smalltalk halten oder sich Gesichter merken. Atypische Autisten haben nur vereinzelte Symptome. Allen gemeinsam sind kommunikative Schwächen und der Hang zu extrem routinierten Tagesabläufen.

Bei Fürst heißt das etwa, dass sie jeden Tag um 5 Uhr 37 unter die Dusche geht. Zwei Minuten zu spät, und sie gerät in Panik. Oder wochenlang nichts anderes isst als Schwarzbrot und Buttergemüse. Nicht weil es ihr so gut schmeckt, sondern weil es Routine ist.

Dass man mit seinen Kollegen bei der Arbeit auch sozialen Kontakt hat, dass man ihnen private Dinge erzählt, hat sie nie verstanden. Kaffeepausen und Smalltalk fanden ohne sie statt. Sie lebt ihr Leben nach Listen, die sie für jeden Tag aufschreibt. Wenn auf der Liste steht, dass sie von neun bis 16 Uhr arbeitet, macht sie nur das. „Ich bin hier zum Arbeiten, nicht zum Reden“, hat sie ihrer Kollegin einmal gesagt. Nicht weil sie schüchtern ist, nicht weil sie die Kollegin nicht mochte, sondern weil es nicht auf ihrer Liste stand. Das ist natürlich nicht gut angekommen. „Es hieß immer: Die ist strange“, sagt Fürst.

Für Ludger Tebartz van Elst, Psychiater an der Uniklinik Freiburg, ist das ein typisches Asperger-Muster. Oft sei der wahre Grund, warum Menschen Burnout erleiden oder depressiv werden, das Asperger-Syndrom. Sie könnten zwar oft in einigen Bereichen extreme Leistungen bringen, aber ein überstrukturierter Tagesablauf führe ebenso oft zu Konflikten.

In letzter Zeit ist die Zahl der Asperger-Diagnosen angestiegen. Früher lag sie im Promillebereich, nach neuen Erhebungen leiden bis zu 1,5 Prozent der Bevölkerung darunter. Das liegt wohl auch daran, dass Asperger eine gewisse Prominenz erreicht hat und früher erkannt wird.

Tebartz van Elst betreut viele Patienten mit Asperger und verschiedenen Formen von Autismus. Die Kategorisierung sieht er kritisch. Wo zieht man die Grenzen? Wo endet Asperger und wo fängt hochfunktionaler Autismus an? „Für mich sind das Scheinkategorien“, sagt er, Übergänge seien fließend. Dass etwa bei der Sprachentwicklung die Grenze zwischen Autismus und Asperger bei drei Jahren gezogen werde, sei willkürlich.

Die Autismus-Experten der APA schlagen daher vor, Asperger aus der Neuauflage ihres Handbuches zu streichen. Damit würde nicht mehr zwischen verschiedenen Krankheiten unterschieden, sondern innerhalb des Autismusspektrums abgestuft. Tebartz van Elst findet das überzeugend.

Doch was bedeutet das für jemanden, der mit einem gewissen Stolz von sich sagt, er sei Aspie, wie sich Asperger-Betroffene selber nennen? In Internetforen ist die Aufregung über die Diskussion in der APA groß. Sie befürchten, dass mit der Bezeichnung Asperger auch die Diagnosekriterien für eine psychische Verhaltensstörung wegfallen und es dann beim Arzt heißt: „Entschuldigung, Sie sind nicht krank. Benehmen sie sich einfach normal.“ Eine Befürchtung, die unbegründet ist. Schließlich würde sich nur die Bezeichnung ändern. Asperger wäre dann etwa milder Autismus.

Trotzdem kritisiert Simon Baron-Cohen, Direktor des Autismus-Forschungszentrums in Cambridge, in der „New York Times“, dass man die Grenzen zwischen den Diagnosen nicht zu früh einreißen sollte. Man würde Betroffene, die eine treffende Benennung ihrer Symptome gefunden hätten, nur verunsichern. Außerdem sei Asperger erst seit 1994 im Handbuch der APA und es stünden noch Nachweise aus, die sicherstellen, dass es keine unterschiedlichen biologischen Ursachen gibt, die Asperger beziehungsweise Autismus auslösen.

Baron-Cohen wurde durch die extreme male brain theory bekannt. Sie erklärt Autismus als ein extrem ausgeprägt männliches Gehirn, das durch erhöhte Testosteronaufnahme im Mutterleib entstanden ist. Damit Asperger als eigenständige Diagnose bestehen kann, müsste es demnach eine andere Ursache geben. Wenn man etwa nachweisen könnte, dass Asperger durch eine nur leicht erhöhte Testosteronaufnahme entsteht, plädiert auch Baron-Cohen dafür, es unter dem Autismusspektrum zusammenzufassen.

„Wie es heißt, ist für mich nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich damit umgehen kann“, sagt Fürst. Inzwischen hat sie gelernt, sich ihrer Krankheit zu stellen. Sie sucht Situationen, die sie fordern. Kann sich sogar vorstellen, während der Arbeit über private Dinge zu plaudern. Wenn sie mit jemandem spricht, sagt sie sich immer wieder: Schau ihm in die Augen! Ein Gespräch mit der Zeitung, das wäre früher undenkbar gewesen.

Daniel Etter

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