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Medizin: Dem Patienten auf den Teller schauen

Das Speisenangebot in der Klinik kann Kranken helfen, schneller zu genesen.

Herr W. hat ein paar Tage im Krankenhaus verbracht, weil er ein künstliches Hüftgelenk brauchte. Der Eingriff verlief komplikationslos. Nach seiner Entlassung kritisierte der 60-Jährige jedoch, das Essen sei eintönig gewesen, er habe leider auch kaum Wünsche äußern dürfen. Morgens habe ihm nach der langen Nacht der Magen geknurrt.

Der 55-jährige Herr L., der in einer anderen Abteilung desselben Krankenhauses wegen Krebs am Darm operiert worden ist, wundert sich, dass er bis kurz vor dem Eingriff und schon einen Tag später wieder essen und trinken durfte.

Die 86-jährige, leicht verwirrte und sehr dünne Frau K. ist nach einem Sturz aus dem Pflegeheim in die Klinik gekommen. Sie lässt ihr Tablett oft fast unberührt zurückgehen, lächelt aber freundlich, wenn die Krankenschwester fragt, ob es ihr denn nicht geschmeckt habe.

Drei ebenso typische wie unterschiedliche Fälle. Sie zeigen, dass Essen zum Leben gehört, auch im Krankenhaus. Doch sie verweisen zugleich auf mehr: „Wir verstehen heute besser, dass Ernährung die Behandlung ergänzt und den Verlauf der Erkrankung beeinflussen kann“, sagte der Magen-Darm-Spezialist Herbert Lochs von der Charité bei der Tagung „Ernährung – Diätetik – Infusionstherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin in Berlin.

Ungewollte Fastenperioden können bei Kranken durch das Umschalten des Organismus auf den Abbau körpereigener Substanz den Heilungsverlauf nach einer Operation ungünstig beeinflussen. Deshalb dürfen heute Patienten wie Herr L. selbst nach einer Darmoperation bald wieder essen und trinken.

Pro Tag und Patient stehen nur vier Euro fürs Essen zur Verfügung

Vor allem Patienten, denen es relativ gut geht und deren Appetit nicht gelitten hat, äußern oft ähnliche Kritik wie Herr W. Sie finden das Essen zu monoton, wenig liebevoll zubereitet. „Nur wenige Diätbewusste beschweren sich dagegen, die Zusammensetzung der Mahlzeiten sei nicht ‚gesund’“, sagt der Ernährungsmediziner Heinrich Lübke vom Helios-Klinikum Emil von Behring in Berlin-Zehlendorf. Dabei ist aus ärztlicher Sicht hier Kritik angebracht. Viele kalte Abendmahlzeiten sind zu fettig und enthalten zu wenig frisches Obst und Gemüse. Auch Fisch gibt’s zu selten.

Sicher ist das alles auch eine Geldfrage. „Die Kosten für den Krankenhausträger liegen derzeit bei vier Euro pro Tag und Patient“, sagte der Gastroenterologe Matthias Pirlich von der Charité. Eine Studie aus dem Jahr 2007 zeigt allerdings, dass es eine beträchtliche Schwankungsbreite nach oben und unten gibt, auch bei den Preisen für die Zutaten. Aus ernährungsmedizinischer Sicht sei auf jeden Fall wichtig, dass man sich auf die Qualität der Produkte, auf eine Zusammensetzung der Mahlzeiten nach den Prinzipien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und auf Rezepturen für wissenschaftlich gesicherte Diätformen verlassen könne, sagte Lübke.

Wer bald wieder nach Hause kann, wird es verkraften, dass das Essen aus der Großküche oder vom Caterer nicht ganz so schmeckt wie zu Hause. Es gibt jedoch auch Patienten, die schon mit allen Zeichen der Mangelernährung in die Klinik eingeliefert werden, darunter viele Hochbetagte aus Pflegeheimen.

„Jeder vierte Patient kommt in einem schlechten Ernährungszustand ins Krankenhaus“, sagte Pirlich. In Zukunft soll das in der Patientenakte dokumentiert werden. Grund für die vom Europarat geforderte erhöhte Aufmerksamkeit in Ernährungsfragen gaben nicht zuletzt die Ergebnisse des „NutritionDay“, der seit 2007 einmal im Jahr eine Art Schnappschuss des Essverhaltens von rund 20 000 Patienten in zahlreichen europäischen Kliniken und Pflegeheimen liefert.

Frühes Abendbrot führt zu nächtlichen Hungerstrecken

Unter den Patienten, die weniger als ein Viertel der ihnen angebotenen Mahlzeit aufessen, komme es zu deutlich mehr Todesfällen, sie blieben im Durchschnitt zudem deutlich länger im Krankenhaus, sagte Michael Hiesmayr von der Medizinischen Universität Wien, der den „NutritionDay“ ins Leben gerufen hat. Er appellierte an die Pflegekräfte: „Den Patienten auf den Teller zu schauen ist wichtiger, als sie zu wiegen.“

Gerade bei älteren, schwachen und untergewichtigen Patienten, deren Appetit und Geschmacksempfinden nachgelassen hat, ist es aber auch besonders wichtig, was im Pflegeheim und im Krankenhaus auf den Teller kommt. „Ideal wäre es, den individuellen Bedarf zu erfassen, und das ist auch mit Großküchen machbar“, sagte Pirlich. Er plädierte dafür, nicht alle Lebensmittel in kalorienreduzierter Form anzubieten. „Fettarme Joghurts leisten der Mangelernährung noch Vorschub.“ Neben leicht zu löffelnden Puddings und Cremes als Zwischenmahlzeit ist auch Fingerfood sinnvoll, das sich gut ohne Hilfe verspeisen lässt.

Pirlich sprach sich dafür aus, dass gerade bei Mangelernährten nächtliche Hungerstrecken, die durch das frühe Krankenhaus-Abendessen entstehen, mit einem zusätzlichen „Spätstück“ überwunden werden. Ein Vorschlag, dem sich sicher auch Herr W. gern angeschlossen hätte. 

Adelheid Müller-Lissner

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