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Medizin: Der Jungfrauenwahn

Nicht nur Muslima sind vom Wahn um das Jungfernhäutchen betroffen. Manche Ärzte verlangen für die "rettende" Operation hunderte Euro.

Es ist nur ein bisschen Gewebe, aber für viele Frauen hängt davon ihr ganzes Leben ab: das Jungfernhäutchen am Scheideneingang, das – so meinen viele – sicher beweise, ob eine Frau bereits Geschlechtsverkehr hatte. Und das heißt in vielen Kulturkreisen: ob sie ehrbar ist oder eine „Schlampe“, die im Extremfall sogar getötet wird. Spätestens in der Hochzeitsnacht schlage die Stunde der Wahrheit. Wenn am Morgen kein Blut auf dem Laken ist, war die Braut keine Jungfrau.

Alles Legende, sagen die Ärztinnen des Berliner Familienplanungszentrums „Balance“, wo etwa dreimal pro Woche Frauen erscheinen und bitten, dass man ihr Hymen wiederherstellt. Die Hälfte bis drei Viertel aller Frauen bluten beim ersten Mal sowieso nicht. Ihr Hymen kann völlig ohne Zutun eines Mannes gerissen sein oder es ist so elastisch, dass ihm der Verkehr nichts anhaben kann. „Ich hatte hier eine Frau, die schon drei Freunde gehabt hatte und ein intaktes Hymen“, sagte Christiane Tennhardt, leitende Gynäkologin bei „Balance“, am Mittwochabend bei einer Informationsveranstaltung. „Da kann ich nähen wie ich will, es wird in der Hochzeitsnacht nicht bluten.“

Was also tun? Vielen der Frauen ist schon mit einer Beratung, auch über genau diesen Sachverhalt, geholfen. Wenn sie die Angst vor einer Jungfräulichkeitsuntersuchung umtreibt, zu der sie die Familie zwingt, kann auch ein Anruf unter Kollegen helfen, sagte Tennhardt. Das heißt: Sie spricht vorab mit dem Gynäkologen, bei dem die Untersuchung erfolgen soll: „Ich selbst würde da immer sagen: Ja, sie ist noch Jungfrau.“

Genäht wird bei Balance nur, wenn andere Wege versperrt sind. Das funktioniert: „Wir haben mehr Anfragen, aber nicht mehr Operationen“, sagte Tennhardt. Dabei ist der Eingriff, bei dem der Riss im Hymensaum wieder geöffnet und neu vernäht wird, medizinisch einfach. Höchstens 220 Euro müssen die Frauen dafür bei Balance bezahlen. Mancher Arzt verlange das Zehnfache, sagte Tennhardt. Viele verzweifelte Mädchen würden aber zahlen, selbst wenn sie sich dafür verschulden müssen. Und nicht selten sind sie Opfer von Gewalt – ein Thema, das an diesem Abend aber nur gestreift werden konnte.

Aber auch ohne dies kann es zu einem Problem werden, wenn die Frau ihre Ehe mit einer Lüge beginnt. Meryem Schouler-Ocak etwa, Psychiaterin an der Charité und Leiterin der AG Migrations- und Versorgungsforschung, kennt Frauen, die später an körperlich unerklärlichen Unterleibsbeschwerden leiden, die vor allem beim Geschlechtsverkehr mit dem Ehemann auftreten.

Ist Jungfräulichkeit eine muslimische Obsession? In Berlin, mit seinen vielen Muslimen und unauffälligeren christlichen Fundamentalisten, mag das so scheinen. „Aber wir sehen weltweit Rückschritte“, sagte Sibylle Schreiber von der Menschenrechtsorganisation „Terre des Femmes“. In den USA zum Beispiel habe die christlich inspirierte Jungfräulichkeitsbewegung „True Love Can Wait“ viele Anhänger. Eine Zeitlang zählte auch Britney Spears dazu, bis allzu deutlich wurde, dass Anspruch und Wirklichkeit des Popsternchens wenig gemein hatten. Der Jungfrauenwahn ist ein Stück Patriarchat. „Das hat mit Religion gar nichts zu tun“, sagte Schouler-Ocak. Ebenso wenig wie die Beschneidung der Klitoris der Frau oder der Vorhaut des Mannes, die seit mehr als 6000 Jahren praktiziert würden – und damit älter sind als das Christentum oder der Islam.

Jungfräulichkeit ist auch kein Thema einer bestimmten sozialen Schicht. Tennhardt hatte schon selbstbewusste, gut ausgebildete Unternehmerinnen vor sich, die vor der Hochzeit ihr Hymen wiederhergestellt haben wollten. Bei diesen Frauen könne man doch Nein sagen, meinte Schreiber. Entschiedener Widerspruch von Schouler-Ocak: „Die Frauen mögen selbstbewusst und selbstständig sein, aber sie hängen womöglich in Ketten, aus denen sie nicht rauskönnen. Darüber können Sie nicht entscheiden.“

Die eigene Beratungsarbeit will „Balance“ jetzt auch mit einer Aufklärungsbroschüre über die wichtigsten Fakten zur Jungfräulichkeit verstärken. In der Hoffnung, dass irgendwann die Ehre einer Frau nicht mehr nur ein paar Zentimeter Gewebe sind. Andrea Dernbach

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