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Medizin: Für jeden Tumor das richtige Mittel

Forscher tragen alle Veränderungen im Erbgut von Krebszellen zusammen – Patienten nützt das schon jetzt

Alle gesunden Zellen sind einander ähnlich, aber jede Krebszelle ist auf ihre besondere Art krank. So könnte man zusammenfassen, was Forscher heute über Tumorentstehung wissen. Etwa 100 000 Veränderungen im Erbgut sind inzwischen bekannt, die Krebs auslösen können. Wissenschaftler gehen davon aus, dass zehn bis 20 solcher Mutationen gemeinsam eine gesunde Zelle zur Tumorzelle werden lassen. Das bedeutet aber auch: Lungenkrebs ist nicht gleich Lungenkrebs. Und welches Medikament das richtige ist, hängt auch von den Mutationen ab, die dem Krebs zugrunde liegen.

Um die Krankheit Krebs zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass die Zellen eines Menschen keineswegs alle dasselbe Genom im Zellkern tragen. Jeder Mensch entsteht zwar aus einer einzigen befruchteten Eizelle. Aber die Urzelle jedes Individuums teilt sich in zwei Tochterzellen, dann teilen sich die Tochterzellen wieder und so weiter. Schnell sind es 8, 16, 32, 64 Zellen. In dem brodelnden Zellhaufen werden die Erbanlagen kopiert und geteilt, kopiert und geteilt. Dabei passieren Fehler. Bis das menschliche Wesen mit seinen Billionen von Zellen auf der Welt ist, hat jede Zelle Veränderungen angesammelt, einzelne der drei Milliarden Buchstaben des DNS-Fadens sind ausgetauscht, ganze Abschnitte verdoppelt, verdreht oder verschwunden.

Beim ausgewachsenen Menschen ist es nicht viel anders. Ständig teilen sich zum Beispiel in der tiefsten Hautschicht Zellen, werden alte durch neue ersetzt. Unter der Körperoberfläche brodelt es weiter. Dazu kommen äußere Einflüsse. Viren können den Menschen angreifen, sich in einzelne Zellen schleusen und ihre Erbanlagen in das Genom einbauen. Dabei können sie sich mitten in ein wichtiges Gen setzen. Auch radioaktive Strahlung, UV-Strahlen und Chemikalien können zu kleinen Fehlern in der DNS führen.

Manche dieser Veränderungen verursachen Krebs. Schon Ende des 19. Jahrhunderts vermutete das der deutsche Forscher David von Hansemann. Im Mikroskop beobachtete er Tumorzellen und stellte fest, dass ihre Chromosomen auf bizarre Art und Weise verändert waren. Lange bevor die DNS entdeckt wurde, stellte er die Hypothese auf, Krebs sei auf Veränderungen im Erbgut zurückzuführen. Erst 1982 konnte so eine Veränderung nachgewiesen werden. Ein winziger Unterschied machte aus dem Gen Hras ein gefährliches Krebsgen.

Dass inzwischen Tausende solcher Mutationen bekannt sind, bringt auch für den Patienten Vorteile. Denn obwohl die einzelnen Veränderungen im Erbgut sehr unterschiedlich sein können, beschränken sich die derzeit bekannten Krebsmutationen im Wesentlichen auf 350 Gene. Welches Gen betroffen ist, kann dabei für die Therapie des Patienten von entscheidender Bedeutung sein. So kann Lungenkrebs häufig auf eine Veränderung im Gen Egfr zurückgeführt werden. Der Tumor spricht dann auch besser auf eine Gruppe von Medikamenten an, die Egfr hemmen, wie etwa „Tarceva“. Ist das Gen nicht mutiert, hat es unter Umständen gar keinen Sinn, ein solches Medikament einzusetzen. Ähnliches gilt für andere Mutationen.

Vor kurzem verkündete der kanadische Krebsforscher Marco Marra, seine Gruppe habe das gesamte Genom eines Tumors sequenziert, der sich vom Mund eines Patienten auf die Lunge ausgeweitet hatte. Dabei fanden sie eine Mutation, die das Gen Pten ausschaltete. Das erklärte, warum der Patient bisher nicht auf die Therapie angesprochen hatte. Denn das Medikament, mit dem er behandelt wurde, wirkt dann am besten, wenn das Gen Pten aktiv ist. Nachdem der Patient ein neues Medikament bekommen hatte, bildete sich der Tumor zurück.

Nach solchen Mutationen in den Genen Egfr und Pten soll am Massachusetts General Hospital in Boston nun routinemäßig gesucht werden. Das Krankenhaus gab im März bekannt, dass Krebspatienten ab sofort auf 110 der häufigsten Mutationen in 13 Genen untersucht würden. So solle den Krebsspezialisten eine bessere Grundlage gegeben werden, um das beste Medikament für den Patienten zu wählen. Andere Krankenhäuser in den USA werden vermutlich nachziehen.

In Deutschland ist so ein breites Vorgehen bisher nicht geplant. In den großen Universitätskliniken werden aber schon jetzt herausoperierte Tumoren auf bestimmte Mutationen untersucht. „Wir machen jedes Jahr tausende solcher Tests“, sagt Manfred Dietel, Leiter des Instituts für Pathologie an der Charité. So werde bei Darmkrebs in aller Regel untersucht, ob eine Mutation des Gens Kras vorliegt. Das entscheide darüber, welches Medikament man gebe. „Das ist auch finanziell wichtig, denn der Test kostet nur 300 bis 500 Euro, aber eine sinnlose Therapie kostet mehrere zehntausend Euro.“ Vor allem habe der Patient aber Nebenwirkungen zu erleiden – ohne dass die Therapie einen Erfolg erziele.

Während in Krankenhäusern einzelne Mutationen untersucht werden, beginnt die Forschung das ganz große Bild zusammenzusetzen. Ein internationales Krebsgenomprojekt will alle Mutationen erfassen, die in menschlichen Krebszellen vorkommen. Laut Peter Lichter, dem Leiter der Abteilung Molekulare Genetik am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, wird sich demnächst auch Deutschland an der Forschung beteiligen. Länder wie Kanada, England, die USA und Indien sind bereits dabei. „Insgesamt sollen bei diesem Projekt für die 50 häufigsten Tumorarten je 500 Krebsgenome entschlüsselt werden“, erklärt Lichter. Das Vorhaben werde einige Jahre in Anspruch nehmen, aber erste Ergebnisse sollen schon im Juni vorgestellt werden.

Möglich ist das Projekt nur, weil das Auslesen der kompletten DNS eines Menschen oder eben eines Tumors immer billiger wird. Das erste menschliche Genom kostete noch viele Millionen, jüngste Sequenzierungen waren mit etwa einer halben Million Euro veranschlagt. „Ende des Jahres kostet ein komplettes Genom wahrscheinlich nur noch 20 000 bis 50 000 Euro“, schätzt Lichter.

Und der Preis wird weiter sinken. Viele Forscher gehen davon aus, dass ein komplettes Erbgut schon in wenigen Jahren für etwa 2000 Euro zu haben sein wird. Dann könnten Onkologen für jeden Tumor herausfinden, was ihn besonders macht – und entsprechend behandeln.

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