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© dpa

Medizin: Kühler Kopf gegen Hitzeschock

Weltraummediziner Hanns-Christian Gunga erforscht, wie Menschen Extremsituationen aushalten. Gerade bei Außeneinsätzen sind Astronauten extremen Temperaturschwankungen ausgesetzt.

200 Gramm zu viel. Wo, bitteschön, soll Hanns-Christian Gunga die noch einsparen? Ein grünes Päckchen, etwa so groß wie ein Verbandskasten, liegt vor ihm auf dem Schreibtisch, hier im ersten Stock des Instituts für Physiologie auf dem Campus Benjamin Franklin der Berliner Charité. Das Päckchen ist für die Astronauten an Bord der Internationalen Raumstation ISS bestimmt – doch mit knapp 2700 Gramm ist es einfach noch zu schwer.

Sowohl der feuerfeste Stoff als auch die Polsterung sind unverzichtbar. Andernfalls dürfte das Päckchen seine Reise gar nicht erst antreten. Und das Messgerät in dessen Inneren ist auch schon auf das Wesentliche reduziert. „Es erfasst, wie viel Wärme über Kopf und Brustkorb abgegeben werden“, sagt der Weltraummediziner. Anhand dieser Daten soll das Gerät schnell erkennen, wann ein Astronaut zu überhitzen droht. „Gerade bei Außenbordeinsätzen sind die Raumfahrer extremen Bedingungen ausgesetzt“, sagt Gunga. „Vorn, wo die Sonne ist, sind es 200 Grad plus; hinten im Rücken 180 Grad minus.“ Und ein Hitzschlag sei gefährlich: Schon auf der Erde, wo man rasch medizinische Hilfe erhält, stirbt jeder zweite Betroffene an den Folgen.

Das Extreme – das ist es, was ihn fasziniert, sagt Gunga. Auf den ersten Blick erstaunt diese Aussage: Der Wissenschaftler trägt weder Tattoos noch Piercings, noch ist sonst irgendetwas extrem an ihm. Er ist braungebrannt wie fast jeder in diesen Sommertagen. Mit seinem dunkelblauen Sakko mit den goldfarbenen Knöpfen, das er in seinem aufgeräumten Büro trägt, erscheint der 54-Jährige eher wie einer, der sich ungern die Hände schmutzig macht – oder, um beim Thema zu bleiben, ins Schwitzen gerät. Doch genau das sucht er immer wieder. In tiefen Bergwerken, wo der Fels mehr als 50 Grad heiß ist und die Luft zum Schneiden. In den Hochebenen der Anden, wo es so wenig Sauerstoff gibt, dass einem schwindelig wird. Oder in einem Forschungsflugzeug, das wieder und wieder im steilen Winkel gen Himmel fliegt und zu Boden stürzt, damit die Forscher in dessen Frachtraum jeweils 20 Sekunden lang Schwerelosigkeit für ihre Experimente haben.

„Ich suche Extremsituationen, um herauszufinden, wie Organismen funktionieren und wie gut sie sich an veränderte Bedingungen anpassen können“, sagt Gunga. Bezogen auf den Menschen ist die Antwort recht einfach: Der kann sich körperlich fast gar nicht anpassen. Nur besonnenes Verhalten verhilft zum Überleben, also bei Hitze viel trinken, kühle Räume aufsuchen und nicht ins Freie gehen. „Die Anpassung passiert vor allem im Kopf, deshalb muss der kühl bleiben“, sagt Gunga. Mit diesem Ansatz entwickelten er und seine Kollegen den Thermo-sensor. Mithilfe von Klebepads an Stirn und Brustkorb sowie einem Computer im Brieftaschenformat kann dieser die Körperkerntemperatur über Stunden und Tage hinweg erfassen. Nämlich nahe an Hirn und Herz, wo der Hitzestau den größten Schaden anrichtet. Bislang wurden für derartige Messungen Rektalsonden benutzt, was ziemlich unangenehm ist und lediglich Temperaturen von weniger wichtigen Körperbereichen liefert.

Der neue Sensor stört nur wenig bei der Bewegung und könnte unter anderem von Feuerwehrleuten im Einsatz getragen werden. Deren Kleidung schützt zwar vor extremer Hitze, dennoch sterben immer wieder Brandbekämpfer an innerer Überhitzung, sagt Gunga.

Natürlich ist das Gerät auch für Raumfahrer hilfreich. Doch ob der Thermosensor fester Bestandteil der Astronautenanzüge wird, steht noch nicht fest. „Jetzt muss er erst mal zur ISS, wo er auf dem Ergometer im US-Labor „Destiny“ unter Schwerelosigkeit getestet wird“, sagt Gunga und deutet auf ein Plastikmodell der Raumstation, das auf dem Schrank hinter seinem Schreibtisch steht. Möglicherweise können dort schwitzende Astronauten mithilfe des Thermosensors ein großes Rätsel lösen: Bis heute ist nämlich ungeklärt, warum Raumfahrer bis zu 15 Prozent mehr Kalorien brauchen als Menschen auf der Erde – und das, obwohl sie in der Schwerelosigkeit sind. „Ich vermute, dass es mit der Temperaturregulierung zu tun hat“, sagt der Mediziner.

Im Februar soll sein Sensor abheben, sobald das gesamte Päckchen auf 2500 Gramm abgespeckt ist. Diskussionen über ein kleines bisschen mehr sind zwecklos, die Vorgaben der US-Raumfahrtagentur Nasa müssen eingehalten werden. Schließlich kostet der Transport ins All pro Kilo gut 20 000 Euro.

Verhandlungen mit Raumfahrtagenturen, Experimente in der Schwerelosigkeit und deutschlandweit der einzige Professor für Weltraummedizin – dass das einmal seine Arbeit sein würde, hätte Hanns-Christian Gunga wohl kaum vermutet. Aufgewachsen in Westfalen begann er zunächst in Münster ein Geologiestudium. Dabei ging es ihm weniger um die Geschichte der Steine, vielmehr interessierte ihn die Geschichte des Lebens auf der Erde. Wie haben es die Organismen geschafft, an Land zu überleben? Wie konnten so gigantische Lebewesen wie die Saurier entstehen? „Über diese Fragen bin ich in die Physiologie geschlittert“, sagt Gunga. Also hängte er nach dem Diplom in Geologie noch ein Medizinstudium ran. Als Anfang der achtziger Jahre an der Freien Universität Berlin der Kurs „Menschen in extremen Umwelten“ ausgeschrieben wurde, war ihm schlagartig klar: „Das will ich machen, dort gehöre ich hin!“ So kam Gunga nach Berlin und landete bald in der Forschungsgruppe des FU-Physiologen Karl Kirsch, der sich unter anderem mit Weltraummedizin befasste. Heute ist Gunga Sprecher des Zentrums für Weltraummedizin, in dem eine Handvoll wissenschaftlicher Institute sowie Raumfahrtfirmen und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) zusammenarbeiten.

Die damit verbundene Arbeit scheint ihm aber noch nicht zu genügen. Nebenbei erforscht er weiterhin Dinosaurier und stellt Berechnungen darüber an, wie deren Kreislauf beschaffen sein musste, um zu derart riesigen Fleischbergen zu werden und diese obendrein bewegen zu können. Der Brachiosaurus brancai etwa, dessen Skelett im Berliner Naturkundemuseum in der Invalidenstraße steht, muss Gungas Berechnungen zufolge ein Koloss von 38 Tonnen gewesen sein.

Schon wieder ein Extrem. Wie die Isolationsversuche, bei denen Menschen über Monate hinweg in geschlossenen Labors leben, um lange Weltraumflüge zu simulieren. Auch an solchen Experimenten war er beteiligt, allerdings jenseits der verschlossenen Zugänge. Die Versuche bekommen eine neue Wertigkeit, seit die USA und Russland angekündigt haben, Menschen auf den Mars schicken zu wollen. Schon die Anreise dauert gut sechs Monate. Physisch sei eine Marsmission machbar, sagt Gunga. „Aber psychisch ist es ein Riesenproblem, die Astronauten müssen sorgfältig ausgewählt werden, damit sie es so lange miteinander aushalten.“

Und wie gelingt es Hanns-Christian Gunga, mit Extremsituationen fertig zu werden? Er läuft jeden Morgen eine Dreiviertelstunde, für die körperliche Fitness und um den Kopf frei zu kriegen. Und er werde von seiner Familie unterstützt, betont er, von seiner Frau und seinen drei Kindern. Außerdem gebe es noch die Musik, vor allem Bach. „Wenn ich seine Klavierkonzerte höre, kann ich wirklich abschalten“, sagt er.

Dann ist es auch vorübergehend egal, ob ein Thermosensor 200 Gramm zu viel wiegt. Gunga ist sicher, dass er und seine Kollegen das Gewicht irgendwie senken können: „Das kriegen wir hin.“

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