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Schwerer Start. Dieses Neugeborene erhält eine Stunde nach der Geburt bereits die ersten Medikamente. Ob es sich tatsächlich bei seiner Mutter mit HIV angesteckt hat, ist zu diesem Zeitpunkt unklar. Entsprechende Tests dauern mehrere Tage.

© AFP

Medizin: Leben ohne das Aidsvirus

Viele Babys infizieren sich bei ihren Müttern mit HIV. Eine aggressive Therapie könnte ihnen helfen. Zumindest in einem Fall war die Behandlung nachweislich erfolgreich. Nun soll eine Studie zeigen, ob das "Wunder" wiederholt werden kann.

Jedes Jahr infizieren sich 300 000 Kinder mit HIV, die meisten von ihnen sind Neugeborene – obwohl es wirksame Strategien gibt, um eine Ansteckung der Babys durch ihre HIV-positive Mutter zu verhindern. Das zeigen Erfahrungen aus Deutschland oder den USA, wo versucht wird, die Ungeborenen durch vielfältige Maßnahmen vor einer Infektion zu schützen. So wird Schwangeren bei den Vorsorgeuntersuchungen ein HIV-Test angeboten. Ist dieser positiv, nehmen werdende Mütter spätestens in den Wochen kurz vor der Entbindung Medikamente, die das Kind schützen. Und das auch, wenn ihre Blutwerte so gut sind, dass sie für sich selbst keine Therapie brauchen. Außerdem werden die Neugeborenen in der ersten Zeit durch Medikamente geschützt. Oft wird den Müttern geraten, sie per Kaiserschnitt zur Welt zu bringen. In Ländern, in denen eine Ernährung mit Fläschchen hygienisch vertretbar ist, wird auch vom Stillen abgeraten.

Schaut man über die Grenzen der reichen Länder hinaus, zeigt sich ein anderes Bild. Ein Zehntel der mit HIV infizierten Menschen sind heute unter 15 Jahre alt. Es hätte schon deshalb große Bedeutung, wenn sich ein „Wunder“ wiederholen ließe, von dem die Kinderärztin Hannah Gray vom University of Mississippi Medical Center und die Aids-Spezialistin Deborah Persaud vom Johns Hopkins Children’s Center in Baltimore im März erstmals berichteten: Ein Kleinkind sei vermutlich geheilt worden! Was bisher undenkbar war, schien damit plötzlich möglich.

Die HIV-Infektion der Frau aus dem Bundesstaat Mississippi entdeckten die Ärzte erst im Kreißsaal, ihr Baby war vorsichtshalber ab einem Alter von rund 30 Stunden zweimal täglich mit einer Kombination aus drei – für ein Baby sehr hoch dosierten – Medikamenten behandelt worden. Wenig später bestätigte ein Test, dass es sich wirklich angesteckt hatte. Die Behandlung schlug an. Doch mit 18 Monaten verschwand die Familie aus dem Blickfeld der behandelnden Ärzte. Erst ein knappes halbes Jahr später meldete die Mutter sich wieder. Und obwohl sie die Therapie bei ihrem Kleinkind vor Monaten abgebrochen hatte, waren im Körper ihres Kindes mit den gängigen Methoden keine vermehrungsfähigen Viren mehr zu entdecken. Es gilt damit als „funktionell geheilt“.

Zuvor war nur der berühmte „Berliner Patient“ Timothy Brown nachhaltig vom Aidsvirus befreit worden. Der Erwachsene hatte allerdings wegen einer Leukämie Knochenmark transplantiert bekommen – und damit das Immunsystem eines Gesunden geerbt, der noch dazu aufgrund einer genetischen Besonderheit gegen das Virus unempfindlich ist.

Auf dem Treffen der Internationalen Aids-Gesellschaft in Kuala Lumpur in der vergangenen Woche war die Wiederholbarkeit solcher Einzelfälle gleich zweimal ein Thema. Zum einen stellte Timothy Heinrich aus Boston zwei erwachsene Patienten vor, die nach einer Krebsbehandlung bislang ebenfalls HIV-frei sind. Beide Männer waren lange Zeit infiziert und bekamen vor zwei beziehungsweise fünf Jahren wegen eines Lymphoms Knochenmark transplantiert. Anders als bei Brown wurde ihr eigenes Knochenmark vorher nur teilweise zerstört, so reduzierten die Ärzte das Sterberisiko der aggressiven Therapie von 40 auf etwa 20 Prozent. Und die Spender waren zwar gesund, aber sie waren nicht unempfindlich gegen HIV. Trotzdem würden sich die gesunden gegen die HIV-infizierten Zellen durchsetzen, hofften die Ärzte. Vor vier Monaten und sieben Wochen hörten beide Patienten auf, ihre antiviralen Medikamente zu nehmen. Bisher konnte kein Virus in ihrem Blut gefunden werden. Von Heilung will trotzdem keiner sprechen. Denn das Virus könnte sich weiter in Reservoirs im Gehirn oder im Darm verstecken und nach Monaten wieder aktiv werden. „Nur die Zeit wird das zeigen“, sagte Heinrich.

Weil in der Forschung einmal keinmal ist, ist nun eine Studie in Planung, die den Erfolg des „Mississippi-Babys“ wiederholen soll. Wie die Fachzeitschrift „Nature“ berichtet, wird das von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA unterstützte Forschungsnetzwerk „Impaact“ (International Maternal Pediatric Adolescent Aids Clinical Trials) sie ermöglichen. Dabei sollen Babys behandelt werden, deren Mütter HIV-positiv sind, selbst aber während der Schwangerschaft keine Behandlung hatten. Im Alter von drei Jahren könnte dann bei einigen der Kinder der Versuch gestartet werden, die Mittel ganz wegzulassen, falls und solange das Virus sich nicht mehr zeigt.

Das Kalkül, das hinter der frühen aggressiven Behandlung steckt: Weil das Immunsystem der Säuglinge noch im Aufbau ist und noch nicht über spezialisierte „Gedächtnis“-Zellen verfügt, kann sich das Retrovirus dort nicht wie in einem Reservoir verstecken. „Bisher ist es jedoch nicht gelungen, das Virus in dieser Phase, in der das Immunsystem noch unreif ist, wirklich zum Verschwinden zu bringen“, sagt Cornelia Feiterna-Sperling von der Pädiatrischen Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Aids-Gesellschaft. Sie behandelt seit den 90er Jahren an der Berliner Charité Kinder mit HIV. Derzeit werden in der dortigen Tagesklinik rund 60 Kinder und Jugendliche betreut.

Viele von ihnen haben dabei schon früher Medikamente bekommen als die kleine amerikanische Patientin. Wenn die Viruslast bei der Mutter nicht unter die Nachweisgrenze gedrückt werden kann, werden dem Neugeborenen nämlich gleich ab den ersten Lebensstunden Medikamente verabreicht, allerdings in deutlich niedrigerer Dosierung als die sogenannte Postexpositionsprophylaxe und nur für einige Tage bis Wochen. „Erst wenn sich bestätigt, dass auch das Kind HIV-positiv ist, stellen wir auf eine andere Kombination in höherer Dosierung um“, sagt Feiterna-Sperling.

Der gängige HIV-Antikörpertest ist bei den Babys dafür jedoch ungeeignet. Er würde positiv ausfallen, weil sie noch die Antikörper der Mutter in ihrem Blut haben. Stattdessen wird ein PCR-Test gemacht, dessen Ergebnis aber erst nach einigen Tagen vorliegt.

Will man in einer Studie den wissenschaftlichen Beweis erbringen, dass der frühe Beginn mit einer aggressiven Behandlung HIV wirklich heilen kann, so muss man notgedrungen auch Babys einbeziehen, die das Virus gar nicht in sich tragen. Eine Gratwanderung. „Wir haben sehr wenig Erfahrung mit einer solchen aggressiven antiretroviralen Therapie im Neugeborenenalter und wissen kaum etwas über die Verträglichkeit“, gibt die Kinderärztin zu bedenken. In den derzeit gültigen Leitlinien der Fachgesellschaft, an denen sie mitwirkte, steht: „Unerlässliche Voraussetzung für den Einsatz antiretroviraler Arzneimittel ist die gesicherte Diagnose einer HIV-Infektion.“

Ohne Zweifel: Ob das „Wunder“ sich wiederholen lässt, ist eine spannende Frage. Nach allem, was man bisher weiß, ist es kein derart extremer Sonderfall wie der der drei erwachsenen Krebspatienten. Ein „Modellfall“ wird es aber auch nicht werden, selbst wenn sich der sensationelle Erfolg wiederholen ließe. „Es verspricht viel mehr Erfolg, die Schwangeren in aller Welt zu erreichen und Übertragungen auf das Kind zu verhindern“, sagt Feiterna-Sperling.

Keiner wisse genau, ob und wie oft es auch heute schon zu echten Heilungen durch die Medikamente komme, die einige dieser Kinder gleich nach der Geburt bekommen, gibt Bernd Buchholz von der HIV-Ambulanz der Universitätsklinik Mannheim zu bedenken. „Es könnten ja Kinder darunter sein, die zwar infiziert waren, bei denen das Virus aber nie durch einen Test nachgewiesen wurde.“

Die Erfolge der derzeitigen Strategie sind jedenfalls eindrücklich. Ohne jede Vorsichtsmaßnahme liegt die Ansteckungsgefahr des Babys einer HIV-positiven Mutter bei bis zu 40 Prozent. An Zentren wie der Uniklinik Mannheim oder der Charité hat nur eines von 100 dieser Kinder später selbst HIV. In den allermeisten Fällen sind das die Kinder von Frauen, die selbst keine Medikamente genommen haben.

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