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Medizin: Vollmundige Versprechen

„Personalisierte Medizin“ ist in Mode. Der Ethikrat findet den Begriff zu schwammig.

Die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung kann einen Menschen so erschüttern, dass Person und die Persönlichkeit Schaden erleiden können. Doch aus dem Gesundheitssystem, in dem Patienten heute meist mit solch einer schlechten Nachricht konfrontiert werden, kommt auch eine vollmundige Versprechung: Die Medizin selbst werde in Zukunft immer weiter personalisiert.

Auf seiner Jahrestagung hat der Deutsche Ethikrat sich des in Fachjournalen inflationär verwendeten Begriffs angenommen: „Personalisierte Medizin – der Patient als Nutznießer oder Opfer?“ lautete die Themenfrage, der sich elf Referenten und fast 400 Teilnehmer widmeten. „Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies medizinischen Fortschritts gefahren, oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt?“, fragte Christiane Woopen, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, zu Beginn der Veranstaltung.

Der Genetiker Francis Collins, Chef der Nationalen Gesundheitsinstitute der USA (National Institutes of Health), ist einer von denen, die entschieden auf die Option „Prunkwagen“ setzen: Er sieht uns am Beginn einer revolutionären Phase der Medizin. Bald werde der Arzt nicht mehr allen seinen Patienten gegen ein Symptom ein und dasselbe Mittel geben, stattdessen werde „jeder Mensch als einmalig wahrgenommen“, weil er „über besondere Merkmale verfügt, die als Leitlinie für seine Gesunderhaltung dienen können“, so zeigt sich Collins überzeugt.

Der Krebsmediziner Jürgen Wolf vom Centrum für Integrierte Onkologie an der Uniklinik in Köln drückte sich bei der Veranstaltung des Ethikrates nüchterner aus. Er machte sich für ein „strikt biologisches Verständnis des Begriffs personalisierte Medizin“ stark. Versteht man sie so, dann hat die personalisierte Medizin vor allem in die Krebstherapie längst Einzug gehalten. Brustkrebspatientinnen werden zum Beispiel nur dann mit Tamoxifen oder Aromatasehemmern behandelt, wenn die Zellen ihres Tumors an der Oberfläche Andockstellen für weibliche Geschlechtshormone aufweisen; das Medikament Herceptin (Trastuzumab) bekommen sie nur, wenn sich dort eine bestimmte Menge solcher Antennen für Her2/neu findet.

Das Sesam-öffne-dich der personalisierten Krebsheilkunde heißt: Biomarker. Vor der Behandlung steht der prognostische Test. Er zeigt, ob der Tumor der individuellen Patientin die genetische Variante trägt, die eine Behandlung mit dem jeweiligen Mittel erfolgversprechend macht. Denn nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, können zielgerichtete Wirkstoffe die jeweiligen Moleküle an ihrer Arbeit hindern und so die Signalübermittlung in die Zelle stören. „Wendet man diese Wirkstoffe bei allen Patienten an, dann bringen sie statistische Verbesserungen, aber keine Durchbrüche“, sagte Wolf.

Ein neueres Beispiel ist das Mittel Erlotinib. Es wirkt bei nichtkleinzelligen Tumoren der Lunge, deren Zellen Veränderungen in den Andockstellen für das Gen EGFR haben. Wolf ist einer der Koordinatoren des Netzwerkes „Genomische Medizin Lungenkrebs“. Er möchte für sein Spezialgebiet erreichen, dass bald alle Tumore genetisch charakterisiert, alle Patienten auf dieser Basis behandelt und alle Behandlungen wissenschaftlich ausgewertet werden.

Doch verdient eine solche Behandlung schon das anspruchsvolle Attribut „personalisiert“ – ganz abgesehen davon, dass die Erfolge bisher meist bescheiden und die Mittel sehr teuer sind? Heiner Raspe, Seniorprofessor für Bevölkerungsmedizin an der Universität Lübeck, hält den Wortschöpfern Begriffspiraterie vor: „Hier wurde ein altes Schiff gekapert, das nun unter falscher Flagge segeln soll.“ Wenn überhaupt, dann könne von personalisierter Medizin nur dort die Rede sein, wo neben Biomarkern auch „Psychomarker“ und „Soziomarker“ Beachtung fänden – wie bei einem Risikotest für kardiovaskuläre Erkrankungen aus Großbritannien, in dem auch das Leben in einer „benachteiligten Wohnregion“ zum Kriterium wurde. Raspe fürchtet, „dass die irreführenden Versprechungen einer personalisierten Medizin das entwerten, was die Medizin heute schon längst kann“. Viele Risikofaktoren lassen sich schließlich auch ohne Biomarker ermitteln. Und eine „sprechende Medizin“ kann gar nicht anders, als persönlich zu werden.

Giovanni Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg, sieht denn auch eine „implizite Entwertung der nicht-naturwissenschaftlichen Zugänge auf den Menschen“, wo eine medizinische Richtung sich als personalisiert bezeichnet, weil sie genetische Risikoprofile von Menschen und biologische Merkmale von Tumoren zum Kriterium von Therapieempfehlungen macht.

In den letzten Jahren war mehrfach der Vorschlag gemacht worden, bescheidener von „stratifizierender“ Medizin zu sprechen, etwa von dem Berliner Onkologen Wolf-Dieter Ludwig, dem Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Bei der Ethikrattagung schlug nun die Humangenetikerin Daniela Steinberger aus Frankfurt am Main die noch präzisere, aber unhandliche Bezeichnung „molekulargenetisch stratifizierende Medizin“ vor.

Mit dem vielversprechenden Begriff „personalisierte Medizin“ jedenfalls schien am Ende keiner mehr glücklich. „Ein Begriff, den jeder Redner zu Beginn seines Vortrags definieren muss, ist verzichtbar. Der kann weg“, befand Jürgen Windeler, der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Und die Vorsitzende des Ethikrates, Christiane Woppen, bat: „Lassen Sie uns den Begriff aufgeben, aber das Positive daran mitnehmen.“

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