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Im Blutkreislauf zirkulieren Billionen roter Blutkörperchen. Jede Sekunde werden zwei Millionen neu gebildet und ebenso viele abgenutzte beseitigt.

© Visuals Unlimited / vario images

Menschlicher Körper: Ausbalanciert

Natürliche Antikörper halten den menschlichen Organismus im Gleichgewicht. Sie sind die weithin unbekannten Müllentsorger des menschlichen Körpers.

Ohne Müllabfuhr geht es nicht. Würden die abgenutzten roten Blutkörperchen nicht beseitigt, sondern irgendwo im Körper abgelagert werden, wöge der Mensch im Alter von 60 Jahren bereits 430 Kilogramm. Dieses Zahlenspiel verdeutlicht die Bedeutung einer weithin unbekannten Gruppe von Müllentsorgern des menschlichen Körpers. Die Rede ist von natürlich vorkommenden Antikörpern, die wegen eines möglichen therapeutischen Nutzens bei der Alzheimer-Erkrankung, Arteriosklerose und Tumorleiden nun aus ihrem Nischendasein rücken.

Bereits bei der Geburt bildet das Immunsystem Antikörper. Das geschieht ohne vorherigen Kontakt zu bedrohlichen Fremdmolekülen. Diese natürlich vorkommenden Antikörper, kurz NAK, gehören zur ersten, angeborenen Abwehrfront. Sie erkennen Merkmale auf Bakterien und Viren, aber auch Bausteine des eigenen Körpers. Inzwischen ist allgemein anerkannt, dass der Organismus dank der NAK Körperprozesse in einem gesunden Gleichgewicht halten kann. NAK markieren und entfernen etwa solche körpereigenen Bausteine, die sich in einem ungewöhnlichen Umfeld aufhalten, etwa nicht in einer Zelle, sondern außerhalb; oder sie sprechen auf Moleküle an, deren Struktur sich verändert hat, weil sie zum Beispiel gealtert sind.

So sind es natürliche Antikörper, die alte rote Blutkörperchen an deren verklumpten Oberflächenproteinen erkennen. Rund 100 solcher Antikörpermoleküle lagern sich dann an eine Blutzelle und vermitteln Entsorgungszellen in der Leber: „Ihr müsst uns fressen!“ Ein Prozess, der täglich milliardenfach abläuft, ohne großes Aufsehen zu erregen. Die NAK können den Müll rasch beseitigen.

Gelegentlich ist die körpereigene Müllabfuhr jedoch überfordert. Etwa wenn sich bei einem genussreichen Lebensstil vermehrt Fette und zellulärer Abfall in den Gefäßwänden absetzen. Eingelagertes „böses“ LDL-Cholesterin kann sich unter dem Einfluss von Sauerstoff verändern und Entzündungen in den Gefäßwänden auslösen, was die Gefäßverkalkung kräftig vorantreibt.

Wie Christoph Binder vom Klinischen Institut für Labormedizin an der Medizinischen Universität Wien berichtet, sind die natürlichen Antikörper besonders auf die Erkennung von Körperstrukturen spezialisiert, die durch den Einfluss von oxidativem Stress geschädigt wurden. Offenbar beseitigen diese Antikörper beim Menschen oxidiertes LDL und zellulären Abfall und schützten so vor deren entzündungsfördernder Wirkung.

Binder würde gerne verstehen, warum manche Menschen offenbar mit weniger schützenden NAK ausgerüstet sind als andere. Bei einem Mangel könnte durch die Gabe spezieller NAK von außen nachgeholfen werden. Besser sei es jedoch, wenn man die NAK-Produktion insgesamt therapeutisch ankurbeln könnte. Dazu müsste man aber dahinterkommen, wie der Körper dieses natürliche Schutzsystem überhaupt reguliert.

Richard Dodel, Neurologe an der Universität Marburg, fand heraus, dass Alzheimer-Patienten weniger NAK gegen Amyloid-Peptide haben als Gesunde. Bei der Alzheimer-Erkrankung lässt das Anhäufen und Verklumpen dieser Peptidstückchen Nervenzellen absterben.

Im Laborversuch können die NAK das Verklumpen der Amyloid-Peptide verhindern, und auch im Gehirn wirken diese Antikörper den Ablagerungen und damit den Nervenschäden anscheinend entgegen. In einer Pilotstudie versuchte Richard Dodel vor sechs Jahren den Zustand von fünf Alzheimer-Patienten durch die Gabe eines Immunglobulinpräparates (IVIg) zu verbessern. Diese Antikörperpräparate, die zur Behandlung von Immundefekten entwickelt wurden und heutzutage auch bei Autoimmunerkrankungen zum Einsatz kommen, enthalten, wie Dodel zuvor herausgefunden hat, auch jene NAK, die die Verklumpung der Proteinstückchen hemmen.

Nach mehreren, monatlichen IVIg-Gaben verschlechterte sich zumindest der mentale Zustand der Patienten innerhalb eines halben Jahres nicht. Auffälligerweise sank die Menge der Amyloid-Peptide in der Gehirnflüssigkeit, während sie im Blut anstieg. Wie genau die verabreichten Antikörper wirkten, wisse man noch nicht, sagt Dodel. Seit Oktober 2009 läuft in den USA eine Studie, die Sicherheit und Wirksamkeit einer IVIg-Gabe an 400 Alzheimer-Patienten testen soll.

Die Fraktion der NAK, die rund zwei Drittel aller Antikörper im Blut eines gesunden Menschen ausmacht, birgt offenbar noch viele ungehobene Schätze. Das zeigen auch Beispiele aus der Tumorforschung. Heinz Peter Vollmers von der Universität Würzburg etwa sucht solche natürlichen Antikörper, die Tumorzellen im Körper erkennen. Täglich bildeten sich im Körper eines jeden Menschen entartete Zellen, die jedoch meistens vom Immunsystem erkannt und beseitigt würden. Natürliche IgM-Antikörper seien ein Hauptbestandteil der körpereigenen Tumorüberwachung, sagt Vollmers.

Bei einem Patienten mit Magenkrebs wurde Vollmers fündig. Sam-6 nennt er den NAK, der an ein Protein auf der Oberfläche von Tumorzellen bindet. Auch andere gesunde Körperzellen können dieses Protein tragen, doch erscheint es auf Tumorzellen mit veränderter „Zuckerdekoration“. Genau diese Molekülabweichung erkennt Sam-6 und treibt die Krebszelle in den programmierten Zelltod. Vollmers kann diesen Antikörper im Labor herstellen und hofft, ihn demnächst am Menschen testen zu können.

Die Würzburger haben weitere NAK gegen tumortypische Strukturen bei Krebspatienten ausfindig gemacht. Allen gemeinsam ist, dass sie mit veränderten Zuckerstrukturen auf den Tumorzellen, nicht aber mit gesunden Zellen reagieren. Damit unterscheiden sich diese NAK von jenen monoklonalen Antikörpern, die zur Behandlung von Krebs bereits auf dem Markt sind. Diese Antikörper binden an Proteinmerkmale, die auf Krebszellen zu finden sind, aber meist auch auf gesunden Körperzellen auftauchen.

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