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Roboterarm

© Johns-Hopkins-Universität, Darpa

Mit der Kraft der Gedanken: Wie Gelähmte per Gehirn-Implantat Roboter steuern

Gedanken sind nicht mehr als elektrische Impulse, Computer können sie in Befehle für Roboter übersetzen. Die Technik könnte so Gelähmten einen Teil ihrer Selbstständigkeit zurückgeben.

Kurz bevor sie in die Schokolade beißt, hält sie für einen Moment inne. „Dies ist ein kleines Häppchen für eine Frau, doch ein riesiger Bissen für die Forschung an Gehirn-Computer-Schnittstellen“, sagt Jan Scheuermann und spielt damit auf die Worte von Neil Armstrong an, die er als erster Mensch auf dem Mond sprach. Selbstständig zu essen, ist für die Amerikanerin nicht weniger erstaunlich. Scheuermann ist vom Kopf abwärts gelähmt.

Die 55-Jährige leidet unter spinozerebellärer Ataxie, die Nervenverbindungen zwischen ihrem Hirn und den Muskeln degenerieren langsam aber unumkehrbar. In einer Winternacht 1996 – ein Krimidinner, das sie organisiert hatte, ging gerade zu Ende – rutschten ihr zum ersten Mal die Beine weg. Das muss die Kälte sein, dachte sie zunächst. Doch es wurde schlimmer. Aus der zweifachen Mutter mit Halbtagsjob wurde innerhalb weniger Jahre eine hilflose Patientin.

Nun bewegt sie die Hand eines Roboterarms zielsicher in Richtung Schokolade, packt zu, hebt die Tafel auf und führt sie zu ihrem Mund. Scheuermann lenkt den Arm ohne ein Wort, ohne Joystick, ohne mechanische Steuerung – allein mit der Kraft ihrer Gedanken. Als sie es geschafft hat, lächelt sie glücklich in die Kamera. Ihre Ärzte haben den Augenblick in einem Video festgehalten. Es ist auch für das Team ein Erfolg.

"Das ist wie die beste Achterbahnfahrt meines Lebens."

Das Experiment der Neurobiologen, Bioingenieure und Ärzte um Andrew Schwartz von der Universität Pittsburgh in Pennsylvania begann im Februar 2012. Damals öffneten Chirurgen die Schädeldecke der Frau und pflanzten ihr zwei 1,6 Quadratzentimeter große Silikonplättchen mit je 96 haarfeinen Elektroden ins Gehirn ein. Das eine Plättchen lag für mehr als zweieinhalb Jahre in dem Areal, das für räumliche Orientierung zuständig ist, das andere in dem für die rechte Armmotorik. Sie zeichneten die Aktivität von jeweils einigen Dutzend Nervenzellen auf und leiteten deren Signale über dünne Drähte an zwei Schnittstellen auf der Kopfhaut weiter.

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Wenn Jan Scheuermann zwei oder drei Mal pro Woche ins Labor kam, schraubten die Forscher an ihrem Kopf zwei streichholzschachtelgroße Boxen fest. Fingerdicke Kabelstränge verbanden dann ihren Schädel mit einem Computer. Sobald sie sich vorstellte, den Arm zu bewegen, übersetzte der Computer die Gedanken – die nichts anderes sind als elektrische Impulse – mit einem Algorithmus in Befehle für den Roboterarm. Scheuermann nannte ihn liebevoll „Hector“.

Dank dieser „Gehirn-Computer- Schnittstelle“ (Brain-Computer-Interface oder kurz BCI) lernte sie in knapp drei Monaten Objekte zu greifen, sie präzise abzustellen, zu stapeln, Kaffee zu trinken. Musste sie sich anfangs auf jedes Vor und Zurück konzentrieren, liefen die Bewegungen Mitte 2012 bereits fast unbewusst in sieben Dimensionen: Arm vor, zurück, auf, nieder, Hand knicken, greifen, drehen. Später kamen gezieltere Fingerbewegungen hinzu, sie konnte sogar mit unregelmäßig geformten Steinen und kleinen Glasröhrchen hantieren. „Das ist für mich wie die beste Achterbahnfahrt meines Lebens“, sagt Scheuermann im Video. „Ich genieße jede Sekunde.“

Oft funktioniert die Signalübertragung nur ein Jahr zuverlässig

Die Frau ist eine von einigen Dutzend gelähmten Patienten, die Prototypen solcher BCI-Systeme mehrere Jahre lang unter Laborbedingungen testen. „In fünf bis zehn Jahren könnten wir ein Robotersystem haben, das Patienten im Alltag verwenden können“, hofft Michael Boninger, der an dem Projekt beteiligt ist. Forscher in aller Welt tüfteln daher an Implantaten, die ohne die störenden Kabel mit dem Computer kommunizieren können. Das Ziel der ganzen Entwicklung jedoch, die Zukunftsvision, „ist eine Prothese, die sich wie echt anfühlt“, sagt der BCI-Pionier Gert Pfurtscheller von der Technischen Universität Graz. Ein robotischer Arm, der den nutzlos gewordenen eigenen Arm eins zu eins ersetzt. Wie bei einem Cyborg im Science-Fiction-Film.

Die spektakulären Versuche der Medizintechniker machen immer wieder Schlagzeilen. Dennoch gibt es nach wie vor große Hürden. Zum einen halten es viele Experten für bedenklich, Elektroden ins Hirngewebe einzusetzen und die Signale direkt abzuleiten, „Dabei durchstößt man die Blut-Hirn-Schranke. Das bringt ein gewisses Infektionsrisiko mit sich“, sagt Moritz Grosse-Wentrup vom Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen. „Außerdem kann ein chirurgischer Eingriff ungewollte Schäden verursachen.“ Zum anderen kann das Gehirn Narbengewebe um kleinste Verletzungen bilden oder den Fremdkörper abstoßen. „Es kapselt die Elektroden mit der Zeit von den Nervenzellen ab, die Signalübertragung wird immer schlechter“, sagt Grosse-Wentrup. Sie funktionieren daher in vielen Fällen nur ein Jahr zuverlässig, das zeigten Erfahrungen aus Experimenten mit Affen und einzelnen Patienten. Jan Scheuermann erging es ähnlich. Im Laufe des Jahres 2014 blieb eine Elektrode nach der anderen stumm. Sie konnte die Bewegungen des Roboters nur noch mit Mühe kontrollieren.

Eine sanftere Variante sind BCIs, die wie eine Badekappe aufgesetzt werden. Sie nehmen die Hirnsignale ähnlich einem herkömmlichen Elektro-Enzephalogramm (EEG) oberflächlich auf dem Kopf ab. Dort ist die elektrische Spannung zwar viel schwächer als unter der Schädeldecke, aber immer noch messbar. Eine Operation ist unnötig. Mithilfe solcher Kappen haben Probanden bereits Videospiele mit reiner Gedankenkraft gespielt und einen Rollstuhl gefahren. In der vergangenen Woche berichteten Forscher der Technischen Universität Berlin, dass es ihnen zusammen mit Kollegen der Universität von Korea gelungen ist, ein Exoskelett als Gehhilfe durch die Kraft ihrer Gedanken zu steuern. Der Mensch, der diese Gehhilfe nutzt, könne damit selbstständig vorwärtsgehen, nach rechts oder links. Er könnte sich hinsetzen und wieder aufstehen.

Die Software muss viele Störsignale ausblenden

Dabei werden Computerprogramme angewendet, die die TU Berlin zusammen mit der Charité im Projekt „Berlin Brain-Computer Interface“ (BBCI) für solche Kappen entwickelt. „Die Schwierigkeit besteht darin, Störsignale etwa von Handys oder Computern, die um Größenordnungen stärker senden, herauszufiltern“, sagt der Neurotechnologe Benjamin Blankertz von der TU Berlin. Exoskelette produzieren ebenfalls eine Menge elektromagnetisches Rauschen. Außerdem gehen den Nutzern viele andere Gedanken mehr oder weniger bewusst durch den Kopf, deren Aktivität die Kappe registriert. All das muss der Computer ignorieren. „Dafür programmieren wir ihm Methoden der Signalverarbeitung und Mustererkennung ein“, sagt Blankertz.

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Ein Clou der Software ist, dass sie lernfähig ist; so lässt sich die Gewöhnung an den Roboter, die Prothese oder die Gehhilfe enorm beschleunigen. Nicht nur der Mensch lernt die Maschine mit seinen Gedanken zu steuern – was für sich genommen Wochen in Anspruch nehmen kann. Auch die Maschine interpretiert die Signale des Menschen immer präziser. „In diesem Wechselspiel dauert es mitunter nur 20 Minuten, bis die Kommunikation funktioniert“, sagt der Neurologe Gabriel Curio von der Charité. Curio, Blankertz und der Informatiker und Mathematiker Klaus-Robert Müller leiten das BBCI. Müller erhielt für die maßgeblich von ihm entwickelten BCI-Programme 2014 den Berliner Wissenschaftspreis.

Seidenweiche Netze mit Elektroden könnten ins Hirn injiziert werden

Jan Scheuermann isst Schokolade
Kleines Glück. Der Roboterarm "Hector" versteht Jan Scheuermanns Gedanken.

© UPMC

Im vergangenen Jahr haben Forscher in einem Gemeinschaftsprojekt der Technischen Universitäten Berlin und München Testpersonen mit lernenden Datenkappen im Simulator sogar Flugzeuge steuern lassen. Teilweise flogen die Teilnehmer so präzise, dass sie damit die Flugscheinprüfung bestanden hätten. „Einer der Probanden konnte acht von zehn vorgegebenen Kursen mit einer Abweichung von nur zehn Grad folgen“, sagt Projektleiter Tim Fricke von der TU München.

Die EEG-Badekappen sind zu umständlich für den Alltag

Doch auch die Badekappen-BCIs haben Nachteile. Es erfordert jedes Mal eine gute halbe Stunde Vorbereitung, bis sie richtig sitzen. Die Elektroden müssen mit Gel eingeschmiert werden, damit die elektrischen Ströme gut fließen. „Für eine routinemäßige Anwendung ist das zu umständlich“, meint Max-Planck-Forscher Grosse-Wentrup. Die Industrie arbeite daher an Kappen, die ohne solche Präparation einwandfrei funktionieren.

Eine große Frage ist allerdings, wie differenziert die so aufgezeichneten Hirnsignale sind und ob sie für Handlungen im Alltag reichen, die komplexer sind als bei Laborversuchen. „Die Auflösung der Kappen bleibt deutlich geringer als bei implantierten Elektroden“, sagt Gernot Müller-Putz, Leiter des BCI-Laboratoriums an der TU Graz. „Wir wissen nicht, wie viele Informationen einer gedachten Bewegung tatsächlich im EEG enthalten sind.“ Momentan sei er zuversichtlich, dass sie ausreichen, um in Zukunft per EEG einen künstlichen Arm zu steuern, als sei es der eigene. Sein Institut mache beim Entschlüsseln der Hirnströme große Fortschritte. „Aber sicher ist der Erfolg nicht.“ Andere Forscher meinen, eine realitätsnahe Steuerung von Prothesen sei nur mit implantierten Elektroden machbar. Dann müssten die Implantate jedoch verträglicher und die Zahl der Elektroden womöglich erhöht werden.

Moritz Grosse-Wentrup hält einen Kompromiss für vielversprechend: BCIs, die zwar unter die Schädeldecke, aber oberflächig auf das Hirngewebe aufgebracht werden. Dort ist die Signalstärke relativ gut, die Blut-Hirnschranke bleibt intakt, eine Abstoßungsreaktion aus und das Infektionsrisiko ist gering. Auch die Mediziner von Jan Scheuermann in Pittsburgh untersuchen diese Option.

Die Technik kann nicht missbraucht werden, um Gedanken zu lesen

Forscher um Charles Lieber von der Universität Harvard gehen einen Schritt weiter. Sie berichteten im Fachblatt „Nature Nanotechnology“ von einem injizierbaren Netz aus seidenweichen Polymerfäden. Die Elektroden oder -transistoren an seinen Knotenpunkten seien nicht größer als eine Nervenzelle selbst. Dieses feine und flexible Netz entfalte sich in den Zwischenräumen des Hirngewebes, schmiege sich an statt es wie Sandpapier zu verletzen und habe das Potenzial, die Aktivität sehr vieler Nervenzellen aufzunehmen. Erste Versuche an Mäusen zeigten, dass das funktioniert. Noch ist das nicht mehr als ein Anfang, die Technik muss sich in Langzeittests an Mäusen, an anderen Tieren und schließlich beim Menschen bewähren. „Für Schnittstellen zwischen Gehirn und Maschine könnte es dann aber interessanter sein als Elektroden, die oberflächig auf das Hirngewebe aufgebracht werden“, sagt Grosse-Wentrup.

Eines bleibt in jedem Fall Science- Fiction: BCIs können nicht dazu missbraucht werden, die Gedanken eines anderen Menschen zu lesen. Jedes System muss auf den einzelnen Patienten abgestimmt werden. „Grobe motorische Befehle des Gehirns sind noch recht ähnlich“, sagt Grosse-Wentrup. Im Detail jedoch unterscheiden sich die Hirnsignale wie ein Fingerabdruck. „Und abstrakte Gedanken sind so individuell – unvorstellbar, dass man sie mit einem Gerät lesen kann, ohne dass man dies zuvor mit dem Betreffenden trainiert.“

Jan Scheuermann ist keine "Laborratte" mehr

Die Forscher haben ganz andere Ziele. Sie prüfen, wie man die Verkabelung in beide Richtungen nutzen kann: Das System soll nicht nur das Feuern der Nervenzellen aufzeichnen, sondern auch Signale zurück ins Gehirn leiten. Etwa die Information, wie fest der Roboterarm die Schokolade umschlossen hält. Für den wirklichkeitsnahen Umgang mit einem künstlichen Gliedmaß wäre dieses Feedback wichtig. „Möglicherweise können wir sogar ein System entwickeln, das die erschlafften Muskeln der Gelähmten selbst wieder stimuliert“, sagt Jennifer Collinger, die an dem Pittsburgher Projekt mitwirkt. Die kaputten Nervenverbindungen würden dann also überbrückt.

Die meisten Experten sind sich sicher, dass Gelähmte in nicht allzu ferner Zukunft wieder Arme und Beine bewegen können – wenn auch nicht unbedingt die eigenen. „Es wird vielleicht nicht zum Klavierspielen reichen“, meint die Würzburger Psychologin Andrea Kübler. Sie hat ein BCI-System entwickelt, mit dem eine Patientin, die unter Amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet, Formen und Farben auf einer Bildschirmmatrix auswählt, zu einem Bild zusammenfügt und so kommuniziert. „Aber einfache alltägliche Handlungen sollten möglich sein." Für viele Gelähmte verbessere das die Lebensqualität enorm.

Jan Scheuermann ist keine „Laborratte“ mehr, wie sie sich scherzhaft selbst bezeichnete. Die Elektroden wurden ihr im Oktober 2014 entnommen. „Ich bin froh, dass ich dabei war“, sagt sie. „Die Zeit war atemberaubend.“

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