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Münchner Ausstellung: Am Vorabend des Völkermords

1,2 Millionen lasen die Hetzparolen, sahen die suggestiven Bilder. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz hat die Ausstellung „Der ewige Jude“ untersucht.

„In Frankfurt, wo ich wohne“, klagte der Journalist Ludwig Börne 1821, „ist das Wort Jude der unzertrennliche Schatten aller Begebenheiten, aller Verhältnisse, aller Gespräche …“. Gegen die diskriminierende Benennung gab es kein Mittel, wie Börne wusste: „Zeichnet sich ein Jude durch Art und Bildung aus, dann sagen die Spötter: Er bleibt doch ein Jude.“

Er bleibt doch ein Jude: Das ist der Kern des antisemitischen Ressentiments, der Kern der Metapher vom „ewigen Juden“. Die Nazis nahmen diesen auf die mittelalterliche Legende vom zum ewigen Herumwandern verdammten Ahasver zurückgehenden Topos bereitwillig in ihr Propagandaarsenal auf. Der rassistische Gehalt war geläufig, als die Nazis 1937 in München eine Ausstellung unter dem Titel „Der ewige Jude“ veranstalteten, und vollends, als drei Jahre später der Film gleichen Titels in die „Lichtspielhäuser“ kam.

Erstaunlicherweise sind Inhalt und Gestaltung der Münchner Ausstellung in Vergessenheit geraten. Die Geschichtswissenschaft, deren Ertrag hinsichtlich der Erforschung des Nationalsozialismus längst unüberschaubar geworden ist, hat ausgerechnet diesem Großprojekt der NS-Propaganda keine Aufmerksamkeit geschenkt. Darauf wurde jedenfalls Wolfgang Benz gestoßen, der langjährige und in Kürze scheidende TU-Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, als er zusagte, einen Beitrag über diese Ausstellung zu verfassen. Es gab, wie Benz jetzt bei der Vorstellung seiner Recherchen im dicht gefüllten Vortragssaal der „Topographie des Terrors“ berichtete, nur „spärliche Unterlagen“. Es stellte sich als „ungeheuer mühsam“ heraus, „aus dem wenigen Archivmaterial die Geschichte dieser Ausstellung zu rekonstruieren“.

Warum dies keine Marginalie ist, ergibt sich bereits aus den Besucherzahlen der Ausstellung. 412 300 Besucher wurden binnen dreier Monate Laufzeit in München gezählt, wo die Ausstellung im noch unvollendeten Bibliotheksbau des Deutschen Museums zwischen dem 8. November 1937 und Ende Januar 1938 in 16 Sälen gezeigt wurde. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wurde die im Wesentlichen aus Schrifttafeln und Fotografien bestehende Ausstellung ab Anfang August 1938 in Wien gezeigt, unmittelbar nach der „Reichskristallnacht“ dann in Berlin; schließlich noch bis fast zum Kriegsbeginn 1939 in Bremen, Dresden und Magdeburg. In Wien wurden 350 000 Besucher vermeldet – für Schüler war der Besuch Pflicht –, in Berlin 250 000, und bei den drei weiteren Stationen kamen insgesamt weitere 210 000 Besucher hinzu. Bevor der Propagandafilm die Kinos erreichte, hatten also bereits 1,2 Millionen Besucher die Hetzparolen der Ausstellung gelesen und die suggestiven Fotografien gesehen.

„Eine systematische Dokumentation der Ausstellung existiert nicht“, konstatiert Benz in seinem Forschungsbericht, der soeben in Buchform erschienen ist und weit über die Münchner Ausstellung hinaus die Methodik und Funktionsweise der nationalsozialistischen Propaganda untersucht. Die Bedeutung einer solchen Fallstudie kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie zeigt nicht nur, wie nahtlos die unterschiedlichen Parteigliederungen und Ämter zusammengearbeitet haben, sondern mehr noch, wie sehr der aggressive, vor keiner noch so vulgären Schmähung zurückschreckende Antisemitismus verbreitet war, bei allen Entscheidungsträgern und Mitläufern des Regimes gleichermaßen.

Erstaunlich bleibt, dass zu der Ausstellung keine begleitende Publikation erschienen ist, und sei es nur eine Broschüre; von einem Katalog hätte angesichts des schlagwortartigen Materials ohnehin nicht die Rede sein können. Das erstaunt insofern, als sich die NS-Propaganda gerade der gedruckten Medien virtuos zu bedienen wusste. Dabei konnte sie durchaus auf die während der Weimarer Zeit zu hoher Blüte gelangte grafische Gestaltung zurückgreifen. Die Durchsicht der von Benz veröffentlichten Aufnahmen der Münchner Ausstellung zeigt, dass durchaus „moderne“ Text-Bild-Montagen Verwendung fanden. Anders als die „Schandausstellung“ „Entartete Kunst“, die im Sommer 1937 gleichfalls in München gezeigt worden war und anschließend auf eine umfangreiche Tournee durch die reichsdeutschen Städte geschickt wurde, scheint die „Große politische Schau“, als die „Der ewige Jude“ offiziell angekündigt wurde, eher den Eindruck einer nüchtern-wissenschaftlichen Darstellung erweckt zu haben.

Das bekannte Plakat, das eine mit den Stereotypen des „Ostjuden“ verzerrte und zugleich als Bolschewist ausgewiesene Gestalt zeigt, dazu den Titel „Der ewige Jude“ in hebräisierten Buchstaben, vermittelt insofern ein einseitiges Bild. Als einheitlich durchgestaltet kann die Ausstellung nach den vorliegenden Abbildungen – zumeist aus dem Münchner Stadtarchiv – jedoch nicht bezeichnet werden, und hinsichtlich der Absicht der Veranstalter resümiert Benz: „Die diffamierende Absicht, die sich raffinierter bösartiger Techniken der Präsentation bedient, ist als Stilprinzip nationalsozialistischer Propaganda zu erkennen.“

Zu den herausragenden Archivfunden zählt der ausführliche Bericht des amerikanischen Konsuls in München Roy Bower, den Benz in den Akten des State Department im Washingtoner Nationalarchiv ausfindig machte. Bowers Bericht ist um Unvoreingenommenheit bemüht. Er nennt manche Ausstellungsräume „interessant“, einen sogar „sehr eindrucksvoll“, manche Gestaltungsmittel „absichtlich komisch“ oder einfach nur „schlecht“. Insgesamt beurteilt Bower die Intention der NS-Veranstalter als „ziemlich misslungen, denn die Ausstellung liefert (oft ganz unerwartet) Beweise für die jüdische Kraft, für die kulturellen Errungenschaften der Juden, ihre Originalität, Vorherrschaft und intellektuelle Überlegenheit“.

Wichtiger noch ist Bowers Beobachtung des deutschen Publikums. Zwar werde gesagt, „dass die Nation die antijüdische Kampagne toleriert oder sogar begeistert davon ist, aber ich selbst habe in den vier Monaten in München nichts davon gesehen, jedoch einige Anzeichen für das Gegenteil bemerkt“. Immerhin war München als „Hauptstadt der Bewegung“ ein Zentrum der Propagandaanstrengungen und aus diesem Grund Erstveranstaltungsort gleich mehrerer derartiger Ausstellungen.

Die distanzierte Beobachtung des US-Konsuls wird durch einen anderen Befund von Benz unterstrichen. Der Film „Der ewige Jude“, von Reichspropagandaminister Goebbels in seinem Tagebuch vorab als „unser großer Clou“ gelobt, fand kein bereitwilliges Publikum, wie Benz schreibt: „Der Film war kein Kassenerfolg.“ In den geheimen „Lageberichten“ des „Sicherheitsdienstes“ (SD) allerdings hieß es 1941, der Film habe „überzeugender und einprägsamer gewirkt als viele antijüdische Schriften“, und insbesondere der Vergleich von Juden und Ratten wurde hervorgehoben.

Benz macht in seinem Buch erschreckend deutlich, wie Propaganda und reales Geschehen sich verschränkten. Besonders denunziatorisch aufbereitete Szenen des Films wurden im Herbst 1939 im unmittelbar zuvor errichteten Ghetto von Lodz gedreht – der Vorstufe, der Vorhölle zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Propaganda, die sich SS-Führer Himmler noch im Mai 1943 gesteigert wünschte, weitete sich nahtlos zum Völkermord.

Wolfgang Benz: „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda. Metropol-Verlag, Berlin, 2010. 176 Seiten, 15 €.

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