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Lateinschülerinnen mit ihrer Lehrerin im Klassenraum.

© Ingo Wagner/picture-alliance/dpa/dpaweb

Mythen um Latein als Schulfach: Falsche Versprechen einer alten Sprache

Latein ist kein Wundermittel, um logisches Denken zu schulen. Die Hochgebildeten aber halten am Mythos fest, um Privilegien zu sichern. Ein Forschungsbericht.

In einer sich zunehmend globalisierenden Welt werden Fremdsprachenkenntnisse im Allgemeinen und die Beherrschung von Englisch im Besonderen immer bedeutsamer. Nur wer fremde Sprachen beherrscht, kann sich über die Länder- und Sprachgrenzen hinweg austauschen. Für Latein gilt allerdings, dass es sich um eine nicht mehr gesprochene Sprachen handelt und man entsprechend mit dem Erwerb des Lateinischen im Unterschied zum Erlernen moderner Sprachen den Kreis seiner Kommunikationspartner nicht vergrößern kann.

Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Nachfrage nach Latein als Unterrichtsfach gering oder gar rückläufig ist. Das Gegenteil ist der Fall: Betrug der Anteil Latein lernender Schülerinnen und Schüler an deutschen Gymnasien im Jahr 1999 rund 26 Prozent, so hat er sich laut Angaben des Statistischen Bundesamtes auf 31 Prozent im Jahr 2017 leicht erhöht. Angesichts der zunehmenden Globalisierung ist die hohe und sogar wachsende Nachfrage nach Latein ein überraschendes Phänomen.

Breite Resonanz in bildungsbürgerlichen Kreisen

Viele Autoren argumentieren nun, dass sich aus dem Lernen von Latein eine Vielzahl anderer Vorteile ergäbe: Latein fördere etwa die Entwicklung der allgemeinen Intelligenz und des logischen Denkens oder verbessere die Fähigkeit, die Muttersprache Deutsch und hier vor allem die Grammatik besser zu verstehen. Zudem sei der Erwerb anderer – vor allem romanischer – Sprachen auf der Basis von Lateinkenntnissen deutlich leichter. Diese Thesen von den vermeintlichen Vorteilen von Latein werden beispielsweise vom Deutschen Altphilologenverband und den altsprachlichen Gymnasien vertreten und finden eine breite Resonanz in bildungsbürgerlichen Kreisen.

Ob Latein nun wirklich die Intelligenz, das logische Denken, das Niveau der Beherrschung der Muttersprache oder das Erlernen anderer Sprachen stärker fördert als andere Sprachen, ist eine allein empirisch zu beantwortende Frage. Vor allem die methodisch sehr gründlich durchgeführten Studien von Ludwig Haag von der Universität Bayreuth und Elsbeth Stern von der ETH Zürich sind diesbezüglich richtungsweisend gewesen. Diejenigen, die an die Vorteile von Latein glauben, werden durch den Stand der Forschung, wenn sie ihn denn wahrnehmen würden, enttäuscht werden. Lateinkenntnisse, so die Bilanz der empirischen Befunde, verbessern weder das logische Denken noch den Erwerb anderer Sprachen noch das Gespür für die grammatikalische Struktur der Muttersprache. Warum lernen dann weiterhin so viele Schülerinnen und Schüler Latein?

Wie bei "Des Kaisers neue Kleider"

Das Ehepaar William und Dorothy Thomas hatte bereits 1928 in dem nach ihnen benannten Thomas-Theorem darauf hingewiesen, dass man zwischen Wirklichkeit und einer definierten Wirklichkeit unterscheiden sollte. Situationen sind real, so die beiden Autoren, wenn sie von den Menschen als real definiert werden. Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ ist eine sehr schöne Illustration der These der Wirksamkeit einer Fiktion in Form einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit.

Für eine beachtliche Summe stellen zwei Schneider für den Kaiser neue und besonders edle Kleider her. In Wirklichkeit weben und nähen sie aber kein neues kaiserliches Gewand, sondern erzählen dem Kaiser und seinem Hofstaat, dass die von ihnen angefertigten Kleider so besonders seien, dass nur kluge Menschen in der Lage seien, sie zu sehen. Da weder der Kaiser noch die ihm Untergebenen als töricht erscheinen wollen, geben sie sich von dem „neuen“ Gewand begeistert, obwohl sie sich selbst eingestehen müssen, dass sie die neuen Kleider gar nicht sehen.

Was nun bedeutet das Thomas-Theorem für den angeblichen Vorzug von Lateinkenntnissen? Selbst wenn sich empirisch keine Vorteile des Erwerbs alter Sprachen nachweisen lassen, können Menschen subjektiv daran glauben und ihr Verhalten an ihrer Konstruktion von Wirklichkeit ausrichten. Ob dies der Fall ist, haben wir in einer Befragung von Eltern von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten untersucht, indem wir die Eltern danach gefragt haben, welche Eigenschaften sie Latein und anderen Fremdsprachen zuschreiben und ob sie die Sprecherinnen und Sprecher von Latein positiver bewerten als die Sprecherinnen und Sprecher von Französisch.

Versuch: Wer Latein gelernt hat, wird zum Bewerbungsgespräch eingeladen

Ein Schüler sitzt im Klassenraum und liest in seinem Lateilbuch mit dem Titel "Salvete".
Früh übt sich - im Lateinunterricht.

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Ergebnisse fallen eindeutig aus: Latein werden nicht nur umfassende Vorteile zugeschrieben, Personen mit Lateinkenntnissen werden auch positiver bewertet als Personen mit Kenntnissen moderner Fremdsprachen. Mit dem Lernen von Latein assoziiert die überwältigende Mehrheit der Befragten, dass dies das logische Denken, die Sprachbeherrschung in Deutsch und die Fähigkeit, andere Sprachen zu lernen, verbessert. Die Befragten gehen zudem davon aus, dass Personen mit Lateinkenntnissen über eine umfassendere Allgemeinbildung und eine bessere kulturelle Bildung verfügen als Personen, die eine moderne Fremdsprache gelernt haben.

Weiterhin zeigt sich, dass diese Vorstellungen der Vorteile von Latein zwar in allen Bildungsgruppen vorhanden sind; es sind aber besonders die bildungshöheren Gruppen, die Latein in besonderem Maße Vorteile zuschreiben. Sie arbeiten damit an der Konstruktion einer Realität, von der sie selbst die größten Nutznießer sind. Der Glaube an die Versprechen, die mit dem Erlernen einer sogenannten alten Sprache wie Latein verbunden werden, ist, ähnlich wie die neuen Kleider des Kaisers, die Folge einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Es handelt sich insofern um eine Fiktion, als sich die dem Lateinunterricht weithin zugeschriebenen Charakteristika wissenschaftlich nicht nachweisen lassen.

Fingierte Bewerbung, um die Wirkung von Latein zu testen

Die Konstruktion der Bedeutsamkeit von Latein ist aber keine „L’art pour l’art“-Konstruktion ohne Folgen. Zu diesem Ergebnis kommt eine zweite, feldexperimentelle Studie, die wir durchgeführt haben. In dieser haben wir fingierte Bewerbungen mit variierendem Fremdsprachenprofil auf Stellenausschreibungen für Führungspositionen verschickt und die Wahrscheinlichkeit, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, untersucht. Tatsächlich waren es Lateinkenntnisse, die sich am positivsten auf die Einladungschancen auswirkten: Personen, die Latein ab der fünften Klasse gelernt hatten, erhielten häufiger eine Einladung zum Vorstellungsgespräch als Personen mit einem neusprachlichen Profil, obwohl moderne Fremdsprachen in einer globalisierten Welt von deutlich größerem Nutzen sind.

In Anbetracht unserer Ergebnisse ist das kaum verwunderlich, scheint das Lernen von Latein doch als ein Wundermittel zur Erlangung einer Vielzahl von Kompetenzen konzeptualisiert zu sein. Dass dies empirisch weitgehend widerlegt ist, scheint dem keinen Abbruch zu tun – und so erfreut sich Latein weiterhin großer Beliebtheit und wird mit Bildung und Status assoziiert. Lernfähiger war da der Kaiser in Andersens Märchen: Nach dem Aufschrei des Kindes erkannte er, dass er einer Fiktion aufgesessen war.

Der Text fasst die Ergebnisse einer Studie der drei Autoren zusammen, die soeben unter dem Titel „Des Kaisers alte Kleider“ in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ im Heft 2, 2019 erschienen ist. Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie an der FU Berlin, Tim Sawert ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter und Ulrich Kohler ist Soziologieprofessor an der Uni Potsdam.

Jürgen Gerhards, Tim Sawert, Ulrich Kohler

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