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Nach mehr als 100 Jahren wiedergefunden: Die unglaubliche Geschichte der Bismarck-Aufnahmen

Knistern, Rauschen und merkwürdige Texte. Offenbar auf Deutsch. Die amerikanischen Forscher wunderten sich über die Töne, die sie auf einer Phonographenwalze aus dem Jahr 1889 fanden. Schnell wird klar, dass hier ein Schatz zu heben ist.

In good old colony times,/When we lived under the King …“ Ein Mann rezitiert die ersten Zeilen eines im 19. Jahrhundert in den USA populären Volksliedes mit unverkennbar deutschem Akzent. Die Stimme gehört dem 74-jährigen Otto von Bismarck, Kanzler des Deutschen Reiches. Es ist die einzige Tonaufnahme Bismarcks. Eine historische Sensation, sagt der Berliner Restaurator Stephan Puille, Laboringenieur an der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Entstanden ist die Aufzeichnung 1889 mit dem Phonographen des amerikanischen Erfinders Thomas Edison. Betätigt hat das Gerät Theo Wangemann, ein deutschstämmiger Mitarbeiter Edisons, der 1889/90 durch Europa reiste, um den Phonographen öffentlich vorzuführen – und Aufnahmen prominenter Stimmen zu machen.

Weit über 100 Jahre lang waren diese Aufnahmen vergessen, die Wachswalzen aus Edisons Phongraphen galten als verschollen. Doch jetzt hat die Stiftung, die Edisons Nachlass verwaltet, die Tondokumente teilweise veröffentlicht – begleitet von der schier unglaublichen Geschichte ihrer Wiederentdeckung und ihrer Entstehung.

Eine hölzerne Kiste mit Phonographenwalzen hatten Mitarbeiter des Edison-Museums in seinem ehemaligen Labor in West Orange, New Jersey, schon 1957 gefunden. Doch erst 2005 wurde die Kiste erneut untersucht, ihre mögliche Bedeutung erkannt. Äußerlich war den Walzen aus einem wachsähnlichen Material nicht anzusehen, was auf ihnen aufgezeichnet ist, sagt Stephan Puille. Es gelang den Forschern des Edison-Archivs, 12 der insgesamt 17 Tonträger abzuspielen und sie in digitale Audiofiles umzuwandeln.

Schnell wird klar, dass hier ein Schatz zu heben ist. Johannes Brahms spielt seinen „Ungarischen Tanz Nr. 1“, der Kölner Musikologe, Komponist und Pianist Otto Neitzel spielt Auszüge des 3. Satzes des Klavierkonzertes Nr. 2 in f-moll von Frédéric Chopin, die erste überlieferte Aufnahme eines Chopin-Stücks.

Doch vieles blieb den amerikanischen Experten unverständlich, nicht nur wegen der schlechten Aufnahmequalität, des Knisterns und Rauschens, die der Phonograph erzeugt. Unidentifizierbares Tondokument, wahrscheinlich deutsche Stimmen – mit dieser Anfrage wendet sich im Frühjahr 2011 ein beteiligter Medienhistoriker an den Berliner Restaurator Stephan Puille, einen international bekannten Experten für frühe Tonaufnahmen.

„Friedrichsruh am 7. Oktober 1889“, knarzt eine männliche Stimme auf dem Audiofile, das sich Puille immer wieder vorspielt. Friedrichsruh, der Familiensitz der Bismarcks bei Hamburg. Für den historisch bewanderten Puille ist das ein Zeichen, an das er anknüpfen kann. Dass Bismarck dort 1889 Tonaufnahmen mit Edisons Phonographen gemacht hat, war den Zeitgenossen bekannt. Wie aus einem Forschungsbericht Puilles hervorgeht, schrieben unter anderem die „Wöchentlichen Anzeigen für das Fürstentum Ratzeburg“ und die „New York Times“ darüber. Die Berichte der Zeitungen deckten sich mit dem, was der Berliner Experte nach und nach heraushören, dechiffrieren konnte.

Nach dem englischsprachigen Volkslied spricht Bismarck einige Verse auf Deutsch aus der Heldenballade „Schwäbische Kunde“ von Ludwig Uhland: „Als Kaiser Rotbart lobesam/Zum heil’gen Land gezogen kam …“ Ebenso flüssig und zugleich getragen rezitiert Bismarck danach das alte Studentenlied „Gaudeamus igitur“. Weiter spricht er auf Französisch die ersten Zeilen der Marseillaise, der französischen Nationalhymne. Die Rezitation des Reichsgrafen endet mit dem „Rat eines Vaters an seinen Sohn“, Arbeit, Essen und Trinken „in Maßen und Sittlichkeit“ zu treiben.

Ein merkwürdiges Sammelsurium kurzer Liedzeilen und Verse, willkürlich als eine Art Testaufnahme in den neuartigen Phonographen des fernen amerikanischen Erfinders gesprochen? Stephan Puille erklärt die teils banale, teils provokative Textauswahl aus der Zeit und dem Umständen der Aufnahme. Wangemann habe erwartet, dass Bismarck sich mit einer Botschaft an die Deutschen diesseits und jenseits des Atlantiks wenden würde. Ein solcher Text sei offenbar auch schon vorbereitet gewesen. Doch dann habe sich Bismarck doch nicht dezidiert politisch äußern wollen. So entschied er sich für unverfänglichere Zitate. „In Good Old Colony Times“ etwa sei als Gruß an Edison zu verstehen. Der Rat des Vaters richtete sich wohl an einen Sohn Bismarcks.

Doch warum Marseillaise?

„Bismarck war ein sehr, sehr witziger Mensch“, zitiert die „New York Times“ vom Dienstag Jonathan Steinberg, Bismarck-Biograf und Historiker an der Universität von Pennsylvania. Es werde den Drahtzieher des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 gereizt haben, die Marseillaise gewissermaßen vor aller Welt zu rezitieren.

Kann das alles wahr sein, ist auszuschließen, dass es sich bei den Tondokumenten um Fälschungen handelt? „Die Aufnahmen sind auf jeden Fall authentisch“, sagt Puille. Zwar habe er die Walzen mit der Bismarck-Aufzeichnung und anderen von ihm analysierten Aufnahmen nicht selber untersuchen können, sie seien zu zerbrechlich für den Transport. Doch die Auffindungsgeschichte sei ebenso plausibel wie die völlig ergebnisoffene Anfrage aus den USA an ihn. Alles passe in das historische Puzzle, das sich mit zahlreichen anderen zeitgenössischen Quellen vervollständigen lasse. „Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass die jetzt vorgestellten Funde gefälscht sind“, sagt auch Thomas Schleußner-Schwarz, Experte für historische Tonträger bei der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Anhand der Zusammensetzung des Wachses lasse sich rasch klären, zu welcher Zeit und wo die Rollen gefertigt wurden. Um nicht gleich aufzufliegen, hätte man Originalmaterial aus dieser Zeit besorgen und daraus die Walzen herstellen müssen. „Bei diesem Aufwand müsste man schon fragen: wozu?“, argumentiert Schleußner-Schwarz.

Theo Wangemanns Reise durch Europa jedenfalls ist gut dokumentiert. Der Sohn eines Berliner Papierwaren-Fabrikanten war 1879 in die USA emigriert, wird im Frühjahr 1888 von Edisons Labor eingestellt, um an der Entwicklung des Phonographen mitzuarbeiten. Ein gutes Jahr später bricht Wangemann an Bord eines Viermasters nach Europa auf. Er soll zunächst den Phonographen auf der Pariser Weltausstellung warten und Personal zu seiner Bedienung schulen. Doch bald wird Wangemann nach Berlin gesandt, dort soll er gemeinsam mit dem inzwischen angereisten Edison den Phonographen Werner von Siemens vorführen. In Berlin macht der Phonograph Furore, etwa als Wangemann und Edison ihn erstmals deutschen Wissenschaftlern, darunter der berühmte Physiologe Emil Heinrich du Bois-Reymond, vorführen. Bei einer zweiten Reise nach Berlin können die Erfinder den Plan realisieren, den Phonographen auch an höchster Stelle vorzuführen. Am Abend des 23. Septembers 1889 sind Edison und Wangemann ins Neue Palais in Potsdam eingeladen.

Kaiser Wilhelm II. lässt sich das Gerät genau erklären, lauscht interessiert den Konzertaufnahmen. Bei einem zweiten Treffen zwei Tage später hoffen die Amerikaner, den Kaiser aufnehmen zu können. Doch der lehnt ab, lässt nur den siebenjährigen Kronprinzen Wilhelm und seine jüngeren Brüder Eitel Friedrich und Adalbert sprechen. In Aussicht gestellt wird auch eine Begegnung mit dem russischen Zaren, Alexander III. Am 12. Oktober ist es so weit, spät abends in der Russischen Botschaft, wie Stephan Puille rekonstruiert hat. Der Zar soll wenig beeindruckt gewesen sein – und nicht bereit, eine Walze zu besprechen.

Erfolg hatte Wangemann dagegen bei dem greisen Feldmarschall Graf Helmuth Moltke, den er Ende Oktober auf seinem Familiensitz in Kreisau besuchte. Es entstanden „die einzigen Aufnahmen eines im 18. Jahrhundert Geborenen, die heute noch hörbar sind“, schreibt Puille. Moltke zollt dem Wunderding Respekt: „Diese neueste Erfindung des Herrn Edison ist in der Tat staunenswert.“ Sie ermögliche, „dass ein Mann der schon im Grabe liegt, noch einmal seine Stimme erhebt und die Gegenwart begrüßt.“

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