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Nachruf: Skeptiker zwischen den Fronten

Ein notorischer Anti-Ideologe und Anti-Opportunist: Zum Tod des Publizisten und FU-Professoren Harry Pross

Er verkörperte die deutsche Nachkriegsmediengeschichte, aber er tat es in einer unverwechselbaren, singulären Weise. Denn eigentlich gehörte Harry Pross nicht zu ihrem Mainstream. Allenfalls in den fünf Jahre als Chefredakteur von Radio Bremen von 1963 bis 1968 spielte er eine Rolle im offiziösen Medienbetrieb. Dass er die Position aufgab, um bis zu seiner Emeritierung 1983 an der Freien Universität die Professur für Publizistik wahrzunehmen, spricht nicht nur für einen Mangel an Karriere-Bewusstsein. Es zeigte auch das ihm eigene publizistisch-wissenschaftliche Temperament, das seine Berufs- und Lebensbahn bestimmte. Er war und blieb ein Intellektueller, für den die Medienpraxis und -theorie zum Hauptfeld seiner Arbeit wurden, dessen Engagement und Leidenschaft aber der Auseinandersetzung mit der Zeit und ihrem Geiste galten.

Pross stammte aus dem legendären Heidelberg nach dem Kriege, einer Pflanzstätte interessanter Köpfe. Zu den Lehrern des Karlsruher Fabrikantensohnes, der schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt war, gehörten Gustav Radbruch, Alfred Weber und Willy Hellpach – große Namen bei der damaligen Suche der Deutschen nach einem neuen Anfang. Ein amerikanischer Studienaufenthalt folgte, danach die Tätigkeit bei Zeitschriften – vor allem bei der „Deutschen Rundschau“ – und als Autor.

Die damals erschienenen Titel sprechen für sich selbst: „Die Zerstörung der deutschen Politik“ hieß 1959 eine dokumentierende Kritik des antidemokratischen Denkens in Deutschland, „Vor und nach Hitler. Zur deutschen Sozialpathologie“ 1962 ein weiteres Unternehmen deutscher Geschichts- und Gesellschaftsdiagnose, und auch seine Geschichte der deutschen Jugendbewegung „Jugend, Eros, Politik“, erschienen 1964, arbeitete sich ab an den heiklen Stellen der deutschen Ideologie. Mit alledem gehörte er zu denen, die damals kritisch und liberal ein neues Kapitel der Geistes- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik mitschrieben.

Als Publizistik-Professor konzipierte Pross eine anregende Symboltheorie – wie sich überhaupt seine Beiträge zur Medienwelt und Medienwirkung durch originelle Perspektiven und eine große Unabhängigkeit auszeichneten. Das hat ihn im West-Berlin der siebziger Jahre oft zwischen die Fronten geraten lassen. Denn den liberalen Bürger Harry Pross, ein notorischer Anti-Ideologe und Anti-Opportunist, der ein Herr war und blieb, hatte sein Jahrhundert zum Skeptiker werden lassen: ein Jahrhundert, das er – wie in seinen 1993 erschienenen Erinnerungen „Memoiren eines Inländers“ nachzulesen ist – wach reflektierend und entschieden reagierend mitgelebt hat. Nach seinen Berliner Jahren zog er sich ins Allgäu zurück, weiter publizistisch tätig – auch der Tagesspiegel hat davon mehrfach profitiert. Wie die Familie gestern mitteilte, ist Harry Pross am vergangenen Donnerstag gestorben, 86 Jahre alt.

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