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Neue Herausforderung. Zwischen 33.000 und 44.000 neue Pädagoginnen und Pädagogen müssten sofort gewonnen werden, damit die geflüchteten Kinder und Jugendlichen im Bildungssystem gut aufgenommen werden, haben die Bildungsforscher für den nationalen Bildungsbericht errechnet.

© dpa

Nationaler Bildungsbericht 2016: Mehr Kraft für die Bildung

Abgehängte Migranten, boomende Privatschulen: Der Bericht "Bildung in Deutschland" zeigt, dass die Politik zu wenig macht. Ein Kommentar

Den deutschen Bildungspolitikern muss bei der Lektüre des neuen nationalen Bildungsberichts schwindlig werden. Natürlich schafft das System eine Menge. Aber ist es wetterfest für die Zukunft? Eine Bildungsschere öffnet sich. Denn während immer mehr Jugendliche höhere Abschlüsse erreichen, bleibt ein großer Teil abgehängt. Die Zahl derjenigen, die im Übergangssystem auf einen Ausbildungsplatz warten, ist seit zehn Jahren erstmals deutlich gestiegen. Ihre Zahl bewegt sich auf die 300 000 zu. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind besonders gefährdet.

Wer ein Stück Kreide halten kann, wird "Lehrer"?

Aber nun muss Deutschland auch noch für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus dem Stand springen. 33 000 bis 44 000 Erzieherinnen, Lehrkräfte und Sozialpädagogen müssten allein für die Geflüchteten aus dem Jahr 2015 gewonnen werden – sofort! Wie soll das gelingen? Wer ein Stück Kreide halten kann und bei „drei!“ nicht auf dem Baum ist, wird „Lehrer“? Eine große Strategie der Politik können die Bildungsforscher nicht erkennen.

Und sie lenken den Blick auf ein neues Problem. Die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft ist deutlich gestiegen. Dass die um den Statuserhalt besorgte Mittelklasse ihre Kinder inzwischen lieber auf die Cosmopolitan als auf die Schule an der Ecke schickt, ist bekannt: Das Kind soll bilingual, in gut ausgestatteten Räumen und ohne Störenfriede aus der Unterschicht lernen. Wer wollte den Eltern das verübeln? Doch diese Eltern helfen nicht mehr mit, den Druck auf die Politik zu erhöhen, das öffentliche Schulsystem zu verbessern. Wandern mehr zu den Privaten ab, droht Deutschland ein Bildungssystem wie in den Bananenrepubliken: Die öffentliche Schule verfällt. Auf sie geht nur noch, wer sich die Privaten nicht leisten kann. Die Folge ist eine entsolidarisierte Zweiklassengesellschaft mit vielen gated communities.

Kirchliche Schulen für alle, egal welches Bekenntnis - der Staat versagt total

Der Aufschwung der freien Träger ist aber keineswegs nur auf eine Flucht vor den öffentlichen Schulen zurückzuführen. Vielmehr wollen sich manche Länder, an der Spitze Mecklenburg-Vorpommern, nicht mehr so viele öffentliche Grundschulen leisten und übertragen die Aufgabe den freien Trägern, meistens Kirchen. Eltern, die das Bekenntnis nicht teilen, werden so zwangsweise vereinnahmt: von einem Staat, der sich weltanschaulich neutral zu verhalten hat – ein Totalversagen.

Bund und Länder müssten eine konzertierte Aktion starten. Für die vielen in Teilzeit arbeitenden Erzieherinnen müsste es attraktiv werden, aufzustocken. Akademikern, die auf Lehrkraft umsatteln wollen, müsste mit üppigen Stipendien das Studium zum Quereinstieg subventioniert werden. Die Wirtschaft sollte sich wieder stärker für Hauptschüler öffnen. In Regionen mit zu wenig Ausbildungsplätzen müssen außerbetriebliche Angebote gestärkt werden.

Als der Bildungsforscher Georg Picht 1964 den Bildungsnotstand ausrief, schrieb er: „Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. Aber die politische Führung in Westdeutschland verschließt vor dieser Tatsache beharrlich die Augen und lässt es in dumpfer Lethargie oder in blinder Selbstgefälligkeit geschehen …“

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