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Nach Auschwitz. Viele Mittäter halfen, den Holocaust zu organisieren, wie Hilberg nachwies; so die Reichsbahn. Der Zeitgeist wollte davon nichts wissen.

© imago/blickwinkel

Nationalsozialismus: Großer Bogen um den Holocaust

Warum wurde Raul Hilbergs monumentales Werk "The Destruction of the European Jews" in Deutschland nicht gedruckt? Zur Kontroverse um das Münchner Institut für Zeitgeschichte.

Die Kontroverse um das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) wirkt fort. In der vergangenen Woche hatte der Historiker und Journalist Götz Aly Dokumente aus dem Archiv des IfZ vorgestellt, die belegen, dass das Institut eine deutsche Übersetzung von Raul Hilbergs monumentalem, in der Originalausgabe gut 800, zweispaltig gesetzte Seiten umfassenden Buch von 1961, „The Destruction of the European Jews“, gleich zwei Mal, in den Jahren 1964 und 1980, negativ beurteilt und damit wohl zu der ablehnende Entscheidung der anfragenden Verlage, Droemer Knaur respektive C.H. Beck, zumindest beeinflusst, wenn nicht hervorgerufen hat.
1982 dann kam „Die Vernichtung der europäischen Juden“ in dem linksgerichteten Berliner Kleinverlag Olle und Wolter heraus, ehe sich der große S. Fischer Verlag acht Jahre später (!) zu einer Taschenbuchausgabe der von Hilberg beständig auf den neuesten Stand gebrachten Arbeit verstand, deren Verkaufspreis im Übrigen nur durch die Spende eines Privatiers auf einen publikumsfreundlichen Betrag gesenkt werden konnte.
Aly machte die von ihm und René Schlott gefundenen Dokumente auf der von letzterem namens des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung veranstalteten Tagung öffentlich. Die Tagung in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung aus Anlass des 10. Todestages Hilbergs (1926–2007) vereinte die akademische Prominenz der Holocaust-Forschung; es ging, dem Anlass gemäß, um die singuläre Leistung Hilbergs, der sein Werk im erstaunlich jugendlichen Alter von 29 Jahren, zudem unterbrochen vom Militärdienst als Soldat der US-Armee bei der Befreiung NS-Deutschlands, als Dissertation eingereicht hatte, aber auch in den USA erst sechs Jahre später als Buch veröffentlichen konnte.

Zahlreiche Behörden hatten sich am Holocaust beteiligt - davon bekam Bundesdeutschland eine Ahnung

Die ablehnende, aus heutiger Sicht nur mehr grotesk zu nennende Haltung des IfZ-Gutachtens wird Gegenstand interner Aufarbeitung sein, wie der stellvertretende Institutsdirektor Magnus Brechtken, als NS-Historiker ausgewiesen, in seiner Replik auf Aly zusicherte. Das kann an dieser Stelle auf sich beruhen; viel mehr interessiert jedoch, in welchem Umfeld, welchem „Zeitgeist“ die jeweiligen Ablehnungen eines heute als ein Standardwerk zur Holocaust-Forschung angesehenen Werkes, eben der Lebensleistung Hilbergs, zustande kamen.
1964 lag das Ende des „Dritten Reichs“ erst knapp zwanzig Jahre zurück; sogar die strafrechtliche Verfolgung des millionenfachen Mordes an Juden und anderen Opfern des NS-Regimes stand noch unter dem Vorbehalt einer 20-jährigen Verjährungsfrist, die erst im folgenden Jahr am Ende einer denkwürdigen Bundestagsdebatte aufgehoben werden sollte. Und eben erst, im Dezember 1963, hatte der (erste) Frankfurter Auschwitz-Prozess begonnen, vorangetrieben durch den unermüdlichen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der als Jude in der Nachkriegs-Bundesrepublik einen ebenso einsamen Kampf gegen die Verdrängung führte wie Hilberg an seinem Schreibtisch im heimischen Wohnzimmer. Im Auschwitz-Prozess wurde erstmals aktenkundig, wie die Mordmaschinerie gewütet hatte; Bundesdeutschland bekam eine Ahnung davon, dass der Judenmord kein fernes, heimliches Verbrechen war, sondern mit Hilfe zahlloser Behörden und Beamten des Reiches geschehen war.
Genau das ist der rote Faden, der Hilbergs von moralischen Urteilen freies, quellenbasiertes, streng wissenschaftliches Werk durchzieht: dass der Holocaust das Ergebnis des arbeitsteiligen Zusammenwirkens aller Einrichtungen Nazi-Deutschlands war und in seinem monströsen Ausmaß bezeugt, wozu ein zentralisierter und bürokratisierter Nationalstaat fähig ist. Der Holocaust als Verwaltungshandeln – das ist eine These, die dem damaligen Bundesdeutschland nicht gefallen wollte, wo man sich mit der Vorstellung vom allein entscheidenden, dämonischen „Führer“ Hitler herausredete.

Noch in den sechziger Jahren galt der Holocaust nicht als Thema der deutschen Geschichte

Hilbergs These fand erhebliche Kritik, und zumal seine Beschränkung auf aktenmäßige Dokumente und die Ablehnung von Berichten Überlebender wird heute mit Blick auf die enormen Erträge der Zeitzeugenforschung deutlich relativiert. Ausdruck heutiger Forschung ist die vielbändige Dokumentation „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“ (VEJ) mit ihrer gleichrangigen Behandlung amtlicher und militärischer Dokumente wie solchen aus Opfer- und Bystander-Perspektive bis hin zu zufällig aufgefundenen letzten Lebenszeichen.
„Die zweifache Ablehnung des ,Hilberg’“ – erläuert René Schlott im Gespräch – „resultiert eben auch aus einem doppelten Unvermögen zu erkennen, dass die Zeit für das Buch gekommen war. Dazu muss man wissen, dass der Holocaust, der 1964 noch gar nicht so bezeichnet worden ist, zu dieser Zeit als jüdisches Thema galt und nicht als Gegenstand der deutschen Geschichte, sowohl in der Bundesrepublik als auch in Israel oder den USA. Hinzu kommt, dass es von Seiten der Angehörigen der Tätergeneration, wie dem IfZ-Direktor Martin Broszat, eine große Befangenheit im Umgang mit den Opfern gab, ja den Vorbehalt, dass, wer von dieser Gewaltherrschaft je betroffen war, nicht mehr objektiv Geschichte schreiben könne.“
Nun lagen 1964 durchaus Information über die Verbrechen des NS-Regimes vor. So hatte Eugen Kogon bereits 1946 sein bahnbrechendes Werk „Der SS-Staat: Das System der Konzentrationslager“ veröffentlicht. Doch zeitlich erst nach dem IfZ-Gutachten von 1964 setzte die breite Beschäftigung mit dem NS-Regime ein. Enorme Publizität erfuhr dank Vorabdruck im „Spiegel“ das Buch des Publizisten Heinz Höhne, „Der Orden unter dem Totenkopf“ von 1967. 1969 erschienen Karl Dietrich Brachers Studie „Die deutsche Diktatur“, aber auch „Der Staat Hitlers“ des IfZ-Direktors Martin Broszat, die ein umfassendes Bild der Geschichte und Struktur des Regimes zeichneten. In jenen Jahren, da sich die Bundesrepublik so tiefgreifend veränderte, machte sich eine neue Generation von Historikern daran, die Selbstrechtfertigungen der Täter- und Mitläufergeneration kritisch zu durchleuchten.

Das Buch erschien schließlich bei einem linken Verlag

Dass eine neuerliche Anfrage an das IfZ zur Begutachtung von Hilbergs nach wie vor in Deutschland unbekanntem Buch im Jahr 1980 wiederum negativ beschieden wurde, muss allerdings verwundern. Götz Alys Vermutung, dass sich das Institut zum Schutz eigener Forschungsvorhaben gegen unliebsame Konkurrenz verwahren wollte, liegt auf der Hand. Das stetig gewachsenen Renommee des Münchner Instituts, das 1949 gerade mit dem Ziel der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gegründet worden war, wirkte sich nun quasi als Hindernis aus. Dass Hilbergs Buch nur zwei Jahre darauf in einem linken Verlag erschien, wurde bei der Berliner Tagung einhellig gewürdigt. Daraufhin wurde die Veröffentlichung als dreibändige Taschenbuchausgabe in einem großen Verlag, bei S.Fischer möglich, wenn auch erst acht Jahre später. Über die Wirkung, die Hilbergs Werk in Deutschland – knapp drei Jahrzehnte nach der amerikanischen Erstveröffentlichung! – schließlich entfalten konnte, gehen die Meinungen auseinander. Tagungsorganisator Schlott nannte Hilbergs opus magnum zugespitzt „das wohl meistgenannte, aber am wenigsten gelesene Werk der Holocaustforschung“ und wünschte ihm erneute Lektüre, „um es von der Problemgeschichte unserer Gegenwart aus neu zu entdecken“.

"Von einem geheimen Geschehen konnte keine Rede sein"

Worin die bleibende Leistung Hilbergs besteht, umriss Sybille Steinbacher, seit Mai dieses Jahres Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts und Inhaberin des Holocaust-Lehrstuhls in Frankfurt/Main, in ihrem Leitvortrag der Berliner Tagung: „Neu an seinem Forschungsansatz war, dass er den Massenmord an den europäischen Juden als komplexen, arbeitsteiligen Prozess verstand, der vom Zusammenspiel fast aller Institutionen und Organisationen des NS-Staates getragen war. (...) Alles bedurfte der bürokratischen Umsetzung und genau darauf richtet sich sein Blick. Hilberg (...) betont stets die Gleichzeitigkeit von Systematik und Ziellosigkeit des Vorgehens und widerlegt bis ins Detail die bis weit in die Nachkriegszeit hinein in Deutschland und Österreich gängige Überzeugung, nur Hitler und einigen hochrangigen NS-Funktionären sei alles bekannt gewesen. Damit konnte er zeigen, dass die Zahl derer, die am Prozess mitwirkten, im Ergebnis in die Hunderttausende ging. Von einem geheimen Geschehen konnte also keine Rede sein.“ Schlott ergänzt mit Blick auf den Ertrag der Berliner Tagung: „Hilbergs Bedeutung liegt nach wie vor darin, die erste Gesamtgeschichte des Verfolgungs- und Mordprozesses an den europäischen Juden vorgelegt und ihm einen analytischen Rahmen gegeben zu haben, von dem für die Forschung nach wie vor Impulse ausgehen. Saul Friedländer würdigte das Werk Hilbergs als ‚Basis’ für seine eigene wissenschaftliche Arbeit, und Christopher Browning erzählte, wie die Lektüre des ‚Hilberg’ ihn erst zum Holocaustforscher werden ließ – zwei Stimmen, allerdings die der einflussreichsten lebenden Wissenschaftler zur Shoah.“ Dass ein Werk von derartiger Bedeutung so lange unbekannt und unerkannt bleiben musste, gehört, wie mit der Berliner Tagung deutlich wurde, zu den großen Fehlstellen der deutschen Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit. Die Aufarbeitung der Institutsgeschichte des IfZ, so nötig sie ist, stellt eher eine Nebenfolge der Entdeckungen Schlotts und Alys dar. In der Hauptsache geht es darum zu verstehen, warum die deutsche Gesellschaft, in West wie nicht minder in Ost, sich so lange gegen die bereits zutage liegenden Erkenntnisse verwahrt und die Vergangenheit verdrängt hat.

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