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Natur vs. Kultur: Wie das Federkleid zum Vogel

Natur und Kultur sind keine Gegensätze, sondern gegenseitig durchwebt. In der Entwicklung des Menschen geht das eine nicht ohne das andere - die aktuelle Krise hat es uns wieder vor Augen geführt.

Erkennen heißt unterscheiden. Wer die Eigenart der Natur erkennen will, muss sie von dem, was nicht Natur ist, abgrenzen können. Also wird man das, was ursprünglich gegeben ist, und das, was daraus gemacht worden ist, auseinander halten. Angesichts der Differenz zwischen dem „Gegebenen“ und dem „Gemachten“ kann man dann die Technik, die Kunst oder die Gesellschaft der Natur gegenüberstellen.

Nach diesem Verfahren steht auch die Kultur der Natur gegenüber. Denn es macht offenkundig einen Unterschied, ob Menschen in Höhlen oder in Häusern leben, ob sie aus der hohlen Hand trinken oder sich einer Tasse bedienen. Problematisch aber wird es, wenn aus dem begrifflichen Kontrast unvereinbare Gegensätze werden. Denn was bliebe von Technik, Kunst, Gesellschaft und Kultur, wenn ihnen die Natur nicht zugrunde läge? Die Natur hingegen kommt allemal auch ohne diese Bereiche aus.

Gleichwohl ist die Versuchung groß, alles, was man von der Natur unterscheidet, in radikale Opposition zu ihr zu bringen. Wenn die politischen Theorien der Neuzeit einen „Naturzustand“ postulieren, aus dem der Staat mit seiner von Menschen gemachten Ordnung hervorgegangen sein soll, erscheint es selbstverständlich, von einem Gegensatz zwischen dem alten und dem neuen Zustand zu sprechen. Dann muss eine Rückkehr in den Naturzustand wie ein Rückfall erscheinen, der mit der Macht des Staates zu verhindern ist. Dann bewegt man sich in einer politischen Alternative, hinter der ein theoretischer Widerspruch zu stehen scheint: Was der Mensch mit so viel Blutvergießen errichtet hat, muss nicht nur etwas grundsätzlich Neues, sondern auch etwas völlig Anderes sein.

Die ökologische Krise ließ uns erkennen, wie sehr gerade eine hoch entwickelte Zivilisation auf die Natur angewiesen bleibt

Tatsächlich ist die Entstehung des Staates eine echte Innovation in der Evolution der Kultur. Gleichwohl fällt er nicht aus der Natur heraus; er steht ihr auch nicht als etwas völlig Fremdes gegenüber. Denn erstens geht er in allen seinen Teilen aus ihr hervor; zweitens bleibt er in allen seinen Vorgängen auf sie angewiesen; und drittens wird er, sollten er oder die ihm folgenden Organisationen eines Tages ihr Ende finden, restlos in Natur übergehen.

Das hatte man eine Zeit lang vergessen. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden Philosophen, die sich auf die Natur des Menschen beriefen, als „reaktionär“ gescholten. Auf die Naturbedingungen des Staates hinzuweisen, galt als „biologistisch“. Und wer nicht so systemkritisch war, den Staat mit einer Maschine, sondern mit einem Organismus zu vergleichen, der wurde einfach zu einem „Faschisten“ erklärt.

Das hat sich geändert. Zunächst wurden wir alle durch die ökologische Krise belehrt, die uns erkennen ließ, wie sehr gerade eine hoch entwickelte Zivilisation auf die Natur angewiesen bleibt. Dann kam die Wende zu den Lebenswissenschaften, die der Biologie und ihren Nachbardisziplinen endlich zu dem verdienten Ansehen verhalf. An diesem Erkenntnisschub waren viele Wissenschaften und eine aufwändige Technologie beteiligt. Deshalb sollte man sich hüten, den Aufstieg der Biologie als „Paradigmenwechsel“ anzusehen und mit ihm den Abschied von den klassischen Naturwissenschaften der Physik und der Chemie zu feiern. Ein wissenschaftlicher und politischer Missgriff wäre es, den Biologen gar die „Deutungshoheit“ über das Leben zuzugestehen.

Auch eine hochentwickelte Gesellschaft ist auf ihre Wurzeln angewiesen

Aufklärung über das Leben kann es nur im Verein verschiedener Wissenschaften geben. Dabei gilt, dass uns Wissenschaft und Technik, nicht, wie man lange irrtümlich glaubte, immer weiter von der Natur entfernen, sondern uns im Gegenteil immer deutlicher erkennen lassen, wie sehr wir – als Menschen und damit als Wesen der Natur – auf diese angewiesen sind. Ein Beispiel dafür ist die erst in den letzten Jahren in Umlauf gekommene Rede von der Evolution der Kultur.

Evolution ist so sehr zum Leitbegriff der Biologie geworden, dass ihn manche Vertreter des Fachs am liebsten für sich reservieren möchten. Dass heute von der Evolution der Sterne, der Evolution der Religionen oder der Technik gesprochen wird, ist für sie ein Ärgernis. Nur wo es genetische Reproduktion, Selektion und Mutationen gibt, also nur wo Vererbung unter den Bedingungen natürlicher Auslese und der Voraussetzung nicht berechenbarer Veränderungen im Erbgut stattfinden, soll der Ausdruck zulässig sein. Doch wäre dem so, hätte Darwin erst gar nicht von Evolution sprechen dürfen. Denn von den Mutationen bei der Replikation der Gene wusste er noch nichts. Er hätte es sich überdies verbieten müssen, von der Evolution der Moral und der gesellschaftlichen Einrichtungen zu sprechen. Denn Institutionen und sittliche Gebote pflanzen sich nicht fort. Vererbung im strengen Sinn gibt es nur bei Individuen, die ihre Sterblichkeit dadurch kompensieren, dass sie ihre genetische Ausstattung an den Nachwuchs weitergeben.

Nun ist es aber so, dass Darwin selbst offenbar gar keine Neigung hatte, den Begriff auf den Vorgang der Fortpflanzung von Individuen zu beschränken. Ihm kam es auf das in der Gattung hervortretende Ergebnis der Entwicklung an. Für die Spezies sind die Individuen nur Beispiele, die anzeigen, was für den Charakter der Art bedeutsam ist. Tatsächlich ist die Biologie, so sehr sie sich auch mit dem einzelnen Organismus beschäftigt, auf allgemeine Formen des Lebens bezogen, die im Individuum lediglich ihren Repräsentanten haben.

Man kann den Evolutionsbegriff auch auf die Erscheinungsformen der Kultur übertragen

Kehrt man die Aussage um und sagt, dass die Formen des Lebens immer auch Repräsentationen individuell vererbter Eigenschaften sind, erkennt man, wie nahe die Biologie der Problemstellung in den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften ist: Sie befasst sich mit generellen Erscheinungsweisen des Lebens, die das Dasein einzelner Exemplare nicht nur überdauern, sondern auch prägen und lenken. Und wenn dazu soziale Gebilde wie Paare, Rudel, Herden, Schwärme, Schwalbenkolonien und Termitenstaaten gehören, ist offenkundig, dass sie sich in ihrer Beschäftigung mit dem Menschen auch mit den sozialen, religiösen und politischen Leistungen dieses Lebewesens befassen muss. Damit bewegt sich die Biologie auf dem gleichen Terrain wie die Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Und wenn sie mit Blick auf ihre Phänomene den Begriff der Evolution gebraucht, dann dürfen es die anderen Disziplinen im Umgang mit denselben Problembeständen auch.

Die Übertragung des Evolutionsbegriffs auf die Erscheinungsformen der Kultur versteht sich auch deshalb von selbst, weil er lange vor Darwin darauf bezogen war. Der Ausdruck findet sich zum ersten Mal bei Leibniz. Der Begründer der Berliner Akademie bezeichnete damit die von ihm angenommene kontinuierliche Entwicklung der Lebewesen aus einem von Anfang an gegebenen Keim, der in allen Samenzellen wirksam sein sollte. Von ihm nahm Leibniz an, dass er das künftige Individuum bereits in seinen elementaren Formen enthält, lange bevor er sich in den ausgewachsenen Exemplaren zur vollen Reife entwickelt. Sehen wir von dem erst im 20. Jahrhundert entdeckten Zufallsgenerator der Mutationen ab, hat der Philosoph damit durchaus Recht. Zwar sind die Gene keine mikroskopisch kleinen Lebewesen; aber deren Bauplan enthalten sie bis in die Einzelheiten. Darwin steht damit in einer durchaus evolutionär zu nennenden Entwicklungslinie des von Leibniz geprägten Begriffs.

Das gilt auch für dessen Übertragung auf gesellschaftliche Vorgänge, die sich nach dem Vorbild einer organischen Entwicklung als bruchlos und folgerichtig verstehen lassen. Nach der Französischen Revolution lag es auf der Hand, die Evolution als Alternative anzusehen, die ohne Blutvergießen zu politischen Veränderungen führt. Darwin war mit dieser Pointe der Terminologie vertraut, und es hat ihn nicht gehindert, sich den Begriff zu eigen zu machen.

Wir erzeugen uns mit unserer Kultur selbst - und bleiben doch stets Wesen der Natur

Man kann also sagen, dass von kultureller Evolution schon Jahrzehnte vor Darwin die Rede war. Doch der Ausdruck hat heute einen prägnanteren Sinn: Er versteht die Kultur als Fortsetzung der Natur mit anderen, mit erweiterten Mitteln, und er unterstellt, dass die Kultur von der Evolution der lebendigen Natur nicht ausgeschlossen ist. Sie bleibt Natur, auch wenn sie neue Erscheinungen hervorbringt. Tatsächlich gelingt ihr das mit jeder neu entstehenden Art.

Zu den Mitteln, mit denen die Natur sich kulturell entfaltet, gehört vor allem die vom Menschen entwickelte Technik. Sie bildet die Natur, und in ihr bildet der Mensch sich selbst. Dadurch, dass er die ihm von der Natur gegebenen Instrumente seiner Arme, Beine und Hände nutzt, um mit deren Hilfe Werkzeuge zu schaffen, die es in der Natur nicht gibt, macht er den entscheidenden Schritt zur Kultur. Zwar verbleibt er mit allem, was er ist und tut, in der Natur, die er unter keinen Umständen hinter sich lassen kann. Aber was er an Werkzeugen erfindet und mit ihrem Einsatz hervorbringt, befördert ihn weit über das hinaus, was in der gegebenen Umwelt ohne sein Zutun angetroffen werden kann.

Jedes Tier greift durch seine Lebensweise in seine Umwelt ein. Insekten, Fische, Vögel und zahllose Säuger verstehen sich auf den Einsatz gefundener Gegenstände, um an Nahrungsmittel heran zu kommen, ihre Jungen zu schützen oder Geschlechtspartner zu beeindrucken. Aber nur der Mensch setzt selbst geschaffene Werkzeuge ein, um neue herzustellen, mit denen er wieder andere hervorzubringen vermag. Nicht das einzelne Werkzeug ist entscheidend, sondern die Vielzahl und Vielfalt sowie die in der wechselseitigen Anwendung erzeugte Steigerung der Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Die Kultur ist die organisch, psychisch und intellektuell prägende spezifische Natur des Menschen

In diesem Prozess bringt sich der Mensch, so wie wir ihn heute kennen, selbst hervor. Durch das, was er in der Domestizierung des Feuers, in der Perfektionierung seiner Gerätschaften und in der Instrumentalisierung seines eigenen Körpers leistet, fordert er sich selbst heraus. Und so wächst er mit seinen Fähigkeiten. Es gehört zu den am besten belegten Tatsachen der Menschwerdung, dass sich Werkzeuggebrauch und Gehirnentwicklung wechselseitig bedingen. Das überproportionale Wachstum der Großhirnrinde ist zwar ein organischer Vorgang, aber der steht in direktem Zusammenhang mit der kulturellen Evolution des Menschen. Der Mensch erzeugt sich mit seiner Kultur selbst.

Die Kultur wird dadurch nicht, wie man früher gerne sagte, zur „zweiten Natur“, sondern sie ist die ihn bereits organisch, psychisch und intellektuell prägende spezifische Natur des Menschen. Sie gehört zum Homo sapiens wie die Flossen zum Fisch und das Federkleid zum Vogel. Und die Frage der kulturellen Evolution bezieht sich darauf, wie sich der Mensch in und mit seiner Kultur entwickelt. Thema ist also nicht mehr, wie noch im älteren Verständnis von Evolution, die Entwicklung eines für sich bestehenden Gegenstandsbereichs. Die Theorie der kulturellen Evolution begnügt sich nicht damit, die Entfaltung des Staates, den Wandel der Gesellschaftsformationen, die Verfeinerung der Tischsitten zu untersuchen. Ihr geht es immer auch um das Schicksal des Lebewesens, das sich in der von ihm selbst in Gang gesetzten Veränderung seiner Welt selbst verändert.

Zu den großen Fragen einer Theorie der kulturellen Evolution gehört, worauf es in der Entwicklung des Menschen eigentlich ankommt. Die älteren Evolutionstheoretiker, vor allem die sogenannten Sozialdarwinisten, schärften ihren Lesern ein, sich für den Daseinskampf zu rüsten, damit ihre hoffentlich zahlreichen Nachkommen Überlebensvorteile erbringen. Mit einem solchen Appell wurde jedes einzelne Individuum zum Agenten einer Evolution, die sich in der Dominanz ihrer Klasse, ihrer Nation oder ihrer „Rasse“ niederschlagen sollte. Dabei wurden genetische Veränderungen im einzelnen menschlichen Organismus unterstellt und der Reproduktionserfolg, also die Zahl der Nachkommen, blieb das entscheidende Kriterium.

Die kulturelle Evolution zeigt, wie sich der Mensch in technisch-materiellen Formen eingerichtet hat

Auf diese Annahme ist die kulturelle Evolution nicht festgelegt. Sie kann die Entwicklung des Menschen unter der Annahme einer relativen Konstanz seiner genetischen Ausstattung beschreiben. Hier stehen die Verhaltensformen des Menschen, seine technischen, sprachlichen, institutionellen und künstlerischen Leistungen im Vordergrund. Sie schaffen ein Gehäuse, in dem die genetische Dynamik der Individuen an Bedeutung verliert. Arbeitsteilung, kumulatives Lernen, kollektive Vorsorge, medizinische Technik und ein immer dichter werdender Pelz des Wissens entlasten nicht nur den einzelnen Menschen, bestimmen auch längst nicht mehr nur die Dynamik einzelner Kulturen, sondern werden für die Menschheit als Ganzes wirksam.

So zeigt die kulturelle Evolution, wie sich die Gattung des Menschen in technisch-materiellen Formen eingerichtet hat. Deren Produktivität entscheidet über den Lebenserfolg des Homo sapiens; das Kriterium der Nachkommenschaft ist relativiert. Nun ist es die Kultur, der es gelingen muss, gleichzeitig stabil, flexibel und produktiv zu sein, damit sich die Menschheit erhalten und entfalten kann. Das Individuum wird dadurch nicht an den Rand gedrängt. Im Gegenteil: Wenn der Imperativ des puren Überlebens nicht mehr im Zentrum stehen muss, wächst die Herausforderung an jeden Einzelnen, sich in seiner kulturellen Existenz zu profilieren.

- Der Autor ist ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität und als Leiter der Wissenschaftlichen Kommission der Union der Akademien zuständig für die Akademieforschung in der Bundesrepublik.

Volker Gerhardt

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