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Kabelbrand. Blick in das Gehirn eines MS-Patienten. Gelb markiert sind Krankheitsherde.

© Schering AG

Neuer Therapieansatz: Multiple Sklerose gestoppt

Riskant, aber erfolgreich: Mit einer Kombination aus Chemotherapie und Stammzellen wurde das Nervenleiden aufgehalten.

Bis heute ist das Nervenleiden Multiple Sklerose (MS) unheilbar, trotz einer ganzen Reihe neuer Medikamente. Umso spektakulärer klingen die Behandlungsergebnisse einer Gruppe kanadischer Ärzte. Mit Hilfe von Stammzellen gelang es den Medizinern, die Krankheit dauerhaft zu stoppen, auch wenn sie das Wort „Heilung“ vermeiden. Allerdings ist die Therapie riskant und kann im schlimmsten Fall tödlich enden.

Die Ursache der typischerweise in Schüben verlaufenden MS ist ungeklärt. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung des Gehirns und des Rückenmarks. T-Zellen der Körperabwehr zerfressen die Hüllen der Nervenzellen, Markscheiden genannt – eine Art Kabelbrand.

Damit können Impulse über die Nervenfasern nicht mehr weitergeleitet werden. Betroffen ist in erster Linie die weiße Substanz des Gehirns, die mit Bindegewebszellen und Leitungsbahnen der Nerven ausgefüllt ist. Hier hinterlässt der Angriff der T-Zellen typische „Brandlöcher“, medizinisch als Entmarkungsherde bezeichnet. Die Krankheitsmerkmale sind je nach befallener Hirnregion etwa Sehstörungen, Muskelschwäche, Koordinationsstörungen und Missempfindungen wie Taubheit und Schmerzen. Mit den Jahren nehmen die bleibenden Behinderungen meist zu.

Die Therapie zerstört das Immunsystem komplett

Die Behandlung zielt vor allem darauf ab, die selbstzerstörerischen Attacken der Körperabwehr zu bremsen. Harold Atkins und Mark Freedman vom Ottawa Hospital und ihr Team trieben diese Therapie auf die Spitze. Sie verschärften eine bereits bei schweren Fällen von MS eingesetzte Methode, die autologe Stammzelltransplantation. Die Forscher „ernteten“ zunächst Blut-Stammzellen des Patienten aus Blut und Knochenmark. Dann wurde das Immunsystem der Kranken mit Zellgiften nicht wie bisher unterdrückt, sondern komplett zerstört. Nach dieser Chemotherapie bekamen die Kranken ihre von gefährlichen Immunzellen gereinigten Stammzellen zurück, berichten die Mediziner online im Fachblatt „The Lancet“.

Von den 24 so Behandelten starb einer an den Folgen der Chemotherapie. Bei den überlebenden 23 Patienten erwies sich die Radikalkur des Immunsystems dagegen als überaus erfolgreich. Im bisher nach der Behandlung verstrichenen Zeitraum von im Mittel 7,5 Jahren war bei keinem Patienten ein Rückfall zu verzeichnen. Die MS war zum Stillstand gekommen. Das ist umso erstaunlicher, als die Betroffenen unter aggressiven, rasch fortschreitenden Varianten der Krankheit litten, die auf herkömmliche Therapien nicht ansprachen.

Die Entzündung im Gehirn wird langfristig unterdrückt

„Die Ergebnisse sind beeindruckend und übertreffen anscheinend die jeder anderen Form der MS-Behandlung“, schreibt Jan Dörr, MS-Experte an der Berliner Charité, in einem Kommentar zu der Studie in „Lancet“. „Die Untersuchung hat erstmals gezeigt, dass es möglich ist, jegliche mit der Krankheit verknüpfte Entzündung bei jedem Patienten über lange Zeit zu unterdrücken.“

Auf der anderen Seite gibt es bei MS-Behandlungsansätzen immer wieder Hypes. Nicht selten folgt Ernüchterung. Auch der Neurologe Dörr warnt gegenüber dem Tagesspiegel, die Studie überzubewerten. Größtes Problem seien die Risiken der Chemotherapie. Sie gelte es zu verringern, „selbst wenn sie sich nicht hundertprozentig vermeiden lassen“. Zudem müsse die Behandlung bei einer größeren Gruppe von Patienten erprobt werden. Und sie müsse im direkten Vergleich mit anderen Verfahren bestehen. All das kann noch zehn Jahre dauern, schätzt Dörr.

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