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Neutrino-Experiment: So schnell lässt sich Einstein nicht widerlegen

Elementarteilchen, die die Lichtgeschwindigkeit überwinden? Physiker sind skeptisch und nehmen einen Messfehler an.

Selten regen Nachrichten aus der Wissenschaft die Phantasie der Menschen so an, wie die Mitteilung von Physikern am Ende der vergangenen Woche. Wie berichtet, veröffentlichten Wissenschaftler des europäischen Kernforschungszentrums Cern Daten, die vermuten lassen, dass „Neutrinos“ genannte Elementarteilchen schneller sind als das Licht. Das aber ist gemäß der speziellen Relativitätstheorie nicht möglich. Nein, sie seien noch lange nicht an dem Punkt, Einstein widerlegt zu haben, beteuerten die Cern-Forscher. Doch bei zahlreichen Smalltalks und in Internetforen wurde schon munter spekuliert und gewitzelt: Einstein am Ende, Zeitreisen sind doch möglich, schöne Grüße aus der Zukunft!

Physiker sind naturgemäß zurückhaltender. „Ich war gerade auf einer Tagung mit rund 100 Neutrinoexperten, als die Daten veröffentlicht wurden“, sagt Christian Spiering vom Deutschen Elektronen-Synchrotron (Desy) in Zeuthen bei Berlin. „Die Kollegen waren sehr skeptisch, schließlich ist die Relativitätstheorie in zahlreichen Experimenten bestätigt worden.“ Was aber nicht heißen soll, dass sie unumstößlich sei, betont Spiering. „Ich bin mir jedoch sehr, sehr sicher, dass in den Daten ein systematischer Fehler steckt, der bisher noch nicht entdeckt wurde.“

Das Team des „Opera“-Experiments hat gemessen, wie viel Zeit Neutrinos aus einem Beschleuniger am Cern in Genf bis zu einem 730 Kilometer entfernten Detektor im Gran-Sasso-Massiv nördlich von Rom benötigen. Das Ergebnis aus rund 16 000 Messungen war verblüffend. Die extrem leichten Elementarteilchen waren im Schnitt um rund 20 Millionstel schneller als die Lichtgeschwindigkeit.

Schon einmal schienen Neutrinos diese Schwelle überschritten zu haben. Vor vier Jahren veröffentlichte das Team des „Minos“-Experiments in den USA Zeitmessungen, die in einer ähnlichen Größenordnung unter dem erwarteten Wert lagen wie bei Opera, berichtet Spiering. Allerdings war die Datenbasis klein und die Messgenauigkeit deutlich geringer als im aktuellen Fall. Nun laufen bei Minos weitere Analysen, für 2013 wird ein präzises Ergebnis erwartet.

Um eine Erklärung für die verwirrenden Daten des Opera-Experiments zu finden, sucht das Team nun die Hilfe von Kollegen in aller Welt. „Das war die richtige Entscheidung“, sagt der Desy-Forscher. Man könne allerdings darüber streiten, ob das Verfahren das geeignete war. Neben einem öffentlichen Auftritt wäre es auch möglich gewesen, die Resultate an eine Fachzeitschrift zu geben, um sie über diesen Weg von Experten prüfen zu lassen.

„Es gibt immer wieder Ergebnisse, die in die Öffentlichkeit getragen werden, obwohl sie noch mit großen Unsicherheiten behaftet sind“, ärgert sich Spiering und erinnert an die vermeintlich neue Fundamentalkraft, von der neulich am US-Teilchenbeschleuniger Tevatron berichtet wurde oder Hinweise auf das Higgs-Teilchen („Gottesteilchen“), die kürzlich auf einem Kongress bekannt gegeben wurden. Wobei der Verdacht mit wachsender Datenmenge entkräftet wurde – was aber weniger offensiv nach außen getragen wurde. „Das schadet der Glaubwürdigkeit der Physikergemeinde.“

Immerhin seien die Daten von Opera nachweislich „signifikant“, also keine Zufallsbefunde, sagt Spiering. Und die Forscher hätten bereits große Anstrengungen unternommen, um eventuelle Fehler zu finden. Am Ende dürfte es wohl so sein, wie der Cern-Forschungsdirektor gesagt hat, vermutet Spiering und zitiert Sergio Bertolucci: „Ich habe schon Experimente gesehen, wo eine Strecke bis auf das Tausendstel hinter dem Komma genau gemessen war. Allerdings hatte man sich vor dem Komma um einen Meter vertan.“

Auch Karsten Danzmann vom Albert-Einstein-Institut in Hannover ist sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Fehler handeln muss. Neutrinos, die schneller sind als Licht, hält er jedenfalls für äußerst unwahrscheinlich. „Anders gesagt: Ich halte es für wahrscheinlicher, dass der Papst Bundeskanzler wird.“

Bisherige Experimente geben ihm Recht. So haben Astrophysiker die Supernova „1987A“ untersucht, die rund 160 000 Lichtjahre von uns entfernt ist. Wären die Opera-Befunde korrekt, müssten die Neutrinos aus der Sternenexplosion Jahre vor dem Licht dieses Ereignisses eintreffen. Tatsächlich kamen sie rund zwei Stunden eher, sagt Spiering. „Das hat einen einfachen Grund: Neutrinos fliegen eher los, das Licht kann erst starten, wenn sich ,der Pulverdampf’ gelegt hat.“

Dennoch suchen Physiker weiter nach den Grenzen ihrer Wissenschaft. Jetzt erst recht. „Die Ergebnisse von Opera wurden auch in unserem Team diskutiert“, sagt Spiering, der den Neutrinodetektor „Icecube“ in der Antarktis mit aufgebaut hat. „Wir überlegen, unsere Daten noch einmal auf Verletzungen der Relativitätstheorie abzuklopfen.“ Ralf Nestler

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