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Schnelle Leitung. Zur Kommunikation zwischen Nervenzellen dienen Neurotransmitter (weiß). Sie werden in Vesikeln transportiert – und im richtigen Moment freigesetzt.

© TIM VERNON / SCIENCE PHOTO LIBRA

Nobelpreis für Medizin und Physiologie: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Es reicht nicht, dass eine Zelle Neurotransmitter, Hormone und Enzyme bildet. Damit im Körper kein Chaos entsteht, müssen auch alle Moleküle punktgenau zu ihren Zielen geliefert werden.

Irgendwo in Baeza in Südspanien hoffte am Montagmorgen ein Neurowissenschaftler auf einen Anruf von einem Kollegen. Thomas Südhof hatte sich auf dem Weg zu einer Konferenz verfahren und brauchte Hilfe. Er ahnte nicht, dass das Nobelkomitee versuchte, ihn zu erreichen. Während alle Welt bereits wusste, dass der gebürtige Göttinger in diesem Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird, entfuhr ihm im Gespräch mit Stockholm völlig perplex die Frage: „Ist das Ihr Ernst?“ Und später: „Oh mein Gott.“ Die erste Ungläubigkeit wich großem Glück.

Ein Klingeln hören. Nach dem Telefon greifen. Eine Nachricht entgegennehmen und deren Bedeutung einordnen. Für den Menschen mag es ein großer Unterschied sein, ob sein Körper auf den Anruf des Nobelkomitees, auf Nahrung, auf Keime oder irgendetwas anderes reagieren muss. Im Kleinen allerdings muss immer alles reibungslos funktionieren: Es reicht nicht, dass die Zellen Moleküle wie Hormone, Neurotransmitter und Enzyme produzieren. Damit sie etwas bewirken können, müssen sie zur richtigen Zeit von A nach B transportiert werden. Die Gewinner des diesjährigen Nobelpreises für Medizin und Physiologie – die Amerikaner Randy Schekman und James Rothman sowie der Deutsche Thomas Südhof – haben dieses Transportsystem der Zellen erforscht.

Botenstoffe sorgen unter anderem dafür, dass Milliarden Nervenzellen im Gehirn untereinander und mit dem Rest des Körpers kommunizieren können. Insulin wird in Zellen der Bauchspeicheldrüse gebildet und ins Blut befördert, damit es den Blutzuckerhaushalt regulieren kann. Immunzellen bilden Stoffe, die den Körper beim Kampf gegen Infektionen unterstützen. Alle diese Substanzen müssen gut verpackt und transportiert werden. Geht an irgendeiner Stelle etwas schief, entstehen Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Autoimmunstörungen oder Erkrankungen des Nervensystems. Teilweise werden die Erkenntnisse der drei Forscher bereits für die Diagnostik verwendet, sagte Göran Hansson, Sprecher des Nobelkomitees.

Das Transportsystem ist so grundlegend, dass es im Laufe der Evolution erhalten blieb

Wie uralt das Transportsystem ist, zeigt die Forschung von Randy Schekman von der Universität von Kalifornien in Berkeley. Während in normalen Hefezellen alle produzierten Eiweiße in kleine Bläschen (Vesikel) verpackt wohlgeordnet von Zellorganelle zu Zellorganelle geschickt werden, gleichen Exemplare mit Erbgutschäden einem völlig überlasteten Flughafen. Das Gepäck stapelt sich, die Bänder sind verstopft, nichts gelangt wie geplant zu den Flugzeugen. Das so entstehende Bläschen-Chaos, das Schekman unter dem Mikroskop sah, war riesig.

Die Logistik in der menschlichen Zelle.
Die Logistik in der menschlichen Zelle.

© Nobelpreis-Komitee/dpa/TSP

Er wollte wissen, was normalerweise für Ordnung sorgt und fing in den 1970er Jahren an, das Erbgut gesunder und mutierter Zellen mühsam miteinander zu vergleichen. Seine Kollegen waren skeptisch. Zellen von Bäckerhefe! Wozu sollte das schon gut sein? In Tieren – vom Menschen ganz zu schweigen – war das doch sicher viel komplizierter. Schekman ließ sich nicht beirren. Er fand mehr als 20 Gene (und somit Eiweiße), die in verschiedenen Schritten für einen reibungslosen Ablauf im Transportsystem der Zellen sorgen. Später zeigte sich, dass die Prozesse zum Teil so grundlegend sind, dass sie im Laufe der Evolution erhalten blieben. Ganz egal, ob es sich um eine Hefezelle, eine Zelle in einer Maus oder in einem Menschen handelt.

Die Bläschen können nur an bestimmten Stellen andocken und ihre Fracht entladen

Auch die Arbeit von James Rothman von der Universität Yale in Connecticut stieß in den 1980er und 1990er Jahren zunächst auf Bedenken. Den Wissenschaftler faszinierte die elegante Einfachheit der Molekularbiologie. „Im Kleinen funktioniert eine Zelle wie eine Maschine“, sagte er. Eine Maschine, die man in seine Einzelteile zerlegen kann. Und genau das tat er, als er das Zusammenspiel in Säugetierzellen erforschen wollte. „Meine Kollegen dachten, ich sei verrückt“, sagte Rothman. Man könne man die Komplexität einer Zelle nicht im Reagenzglas reproduzieren. „Woher ich den Mut hatte, es trotzdem zu versuchen? Jugendliche Arroganz, gute Mentoren und eine Forschungsförderung, die das Risiko nicht scheute.“

Er entdeckte Eiweißkomplexe, die reißverschlussartig funktionieren. Ein Ende sitzt auf dem Bläschen, das andere an einer bestimmten Stelle auf der Zielmembran der Zelle. Nur wenn beide Enden perfekt zusammenpassen, können die vollgepackten Bläschen andocken, mit der Membran verschmelzen und ihr Gepäck ordnungsgemäß abladen.

Der Zeitpunkt ist entscheidend

Aber woher wissen die Bläschen, wann sie das tun sollten? Wenn Gedankenblitze weitergeleitet werden sollen, bleibt keine Zeit, erst jetzt Botenstoff-Bläschen zu bilden und sie an die richtige Stelle zu manövrieren. All das muss vorher passiert sein. An den Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen im Gehirn (Synapsen) stehen deshalb ständig Bläschen voller Botenstoffe bereit. Sie dürfen aber auch nicht zufällig an der Zellmembran entladen und unkontrolliert in den Spalt zwischen den Nervenzellen entweichen. Das würde ebenfalls zu Chaos führen.

Stattdessen warten sie auf ein Signal und reagieren zu gegebener Zeit innerhalb von Millisekunden. Wie das funktioniert, entschlüsselte Thomas Südhof von der Universität Stanford. Er entdeckte, dass die Reißverschluss-Moleküle nicht allein arbeiten, sondern ein Team mit anderen Eiweißkomplexen auf der Membran der Botenstoff-Bläschen bilden. Und diese reagieren auf Kalzium. Sobald ein elektrisches Signal an der Synapse der Nervenzelle ankommt, flutet Kalzium durch viele Kanäle von außen in das Innere der Synapse. Der jeweilige Eiweißkomplex registriert das und gibt das Signal: „Jetzt!“ Die kleinen Bläschen voller Botenstoff, die durch den Reißverschluss bereits eng an die Zellmembran gebunden sind, öffnen sich. Der entsprechende Botenstoff wird freigesetzt. Genau zur richtigen Zeit.

Südhofs eigenes Gehirn kämpfte am Montag noch mit der Zeitverschiebung. Er war erst am Morgen in Madrid gelandet und hatte auf dem Transatlantikflug kaum geschlafen. „Es ist ein wunderbarer Tag“, sagte er. „Jetzt freue mich auf ein tolles Essen mit Kollegen. Und dann auf mein Bett.“ (mit dpa)

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