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Drei Nobelpreisträger mit blauen Ballons.

© Jingcheng Zhao

Nobelpreisträger Thomas Südhof in Berlin: Der Gehirnversteher

Mit Bauchgefühl und Bescheidenheit: Thomas Südhof, Medizin-Nobelpreisträger, erforscht die Nerven in kleinen Schritten.

„Mutig“, flüstert eine Frau ihrem Nachbarn zu. Auf der riesigen Leinwand des Max-Kade-Auditoriums der Freien Universität wird das Foto eines langhaarigen Teenagers eingeblendet. Mein Werdegang, steht in großen Lettern darüber. Geboren 1955 in Göttingen, Waldorfschule Hannover, 1975 Abitur. Thomas Südhof lässt amüsiert den Blick über die Reihen schweifen. 1200 Menschen sind an diesem Nachmittag nach Dahlem gepilgert, um ihn zu erleben. „Den Gürtel habe ich noch. Ich wünschte, ich hätte noch diese Haare“, sagt er dann. Im schallenden Gelächter geht es beinahe unter.

Einige Nicht-Neurowissenschaftler im Saal atmen auf. Südhof hält keinen trockenen Fachvortrag. Bevor er zusammenfasst, wofür er im Dezember 2013 gemeinsam mit Randy Schekman und James Rothman den Medizin-Nobelpreis bekam, zeichnet er selbstironisch seinen Weg nach Stockholm nach. Er zeigt einen Sechstklässler, der kichernd in der letzten Bank abtaucht. Er erzählt von einem jungen Mann, der wie seine Eltern vor ihm Medizin studiert, weil er meint, so müsse er sich nicht gleich festlegen und der später Forschung spannender findet („Ärzte verstehen weder Krankheit noch Gesundheit!“).

Und er berichtet vom Hilfswissenschaftler am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen, der 1983 nicht etwa nach New York, sondern zum Entsetzen seiner Freunde nach Dallas geht. Im Labor der Genetiker Joseph Goldstein und Michael Brown lernt er nicht nur die neuesten Techniken der Molekularbiologie. Südhof findet dort eine sinnvolle Verknüpfung von Medizin und Biologie. Die Regulierung des Cholesterinspiegels ist ihm schon deshalb nahe, weil sein Vater jung an einem Herzinfarkt starb. Also Texas. „Die beste Entscheidung meines Lebens“, sagt er. Von seinen Mentoren habe er erst gelernt, was Wissenschaft ist. Von einem kurzen Intermezzo abgesehen blieb Südhof in Amerika. Mittlerweile lehrt er seit 2008 an der Universität Stanford, in deren Logo ein deutscher Satz versteckt ist: „Die Luft der Freiheit weht.“

Nie irgendeiner Mode hinterherrennen

Auf der Empore des Audimax sitzen rund 20 Doktoranden von Berliner Forschungseinrichtungen, die anderthalb Stunden zuvor in kleiner Runde mit Südhof diskutiert haben. Sollen sie das Risiko eingehen und in der Forschung bleiben? Jobsicherheit und Geld finden Sie anderswo, hatte er ihnen geantwortet. Irgendeine Postdoc-Stelle zu bekommen, sei zwar relativ einfach. „Das heißt aber nicht, dass es gut für Sie ist.“

„Und wie sollen wir entscheiden?“

Volksnah. Der Abiturient Südhof und der Nobelpreisträger.
Volksnah. Der Abiturient Südhof und der Nobelpreisträger.

© Bernd Wannenmacher/ FU

Dem Bauchgefühl folgen. Nicht von großen Namen beeindrucken lassen, sondern das Labor besuchen, antwortete er. „Sprechen Sie mit den potenziellen Kollegen. Die sagen die Wahrheit.“ Ist das Labor produktiv oder zehrt es von altem Ruhm? Was ist aus ehemaligen Mitarbeitern geworden? Vor allem sollten sie nie irgendeiner Mode hinterherrennen. „Das ist immer falsch“, sagte er. „Suchen Sie sich eine Frage, die Sie wirklich interessiert. Eine, die noch nicht genug Beachtung findet.“ Wer neue Felder erschließt, kann Anführer werden.

Nichts anderes hat er selbst getan. Als Südhof 1986 sein eigenes Labor aufbaut, wendet er sich dem Gehirn zu. Als Arzt hatte er gesehen, was Demenzen oder eine akute Schizophrenie anrichten können. Doch die meisten Forscher lassen das Organ links liegen und beschäftigen sich lieber mit Krebs oder Herzkrankheiten. Neurowissenschaft ist noch nicht en vogue. Nicht einmal annähernd.

15 Minuten Ruhm, Pomp, Spaß

Wie Nervenzellen miteinander kommunizieren, ist damals nur in groben Zügen bekannt: Erreicht ein elektrisches Signal eine Verbindungsstelle zwischen zwei Nervenzellen (Synapse), schüttet die einen Botenstoff aus und ihre Nachbarin erkennt ihn. Südhof will wissen, wie sie das präzise und innerhalb von Millisekunden schaffen. Experiment für Experiment sucht er nach den Eiweißen, die diesen Prozess steuern. Und findet sie. Dass Forscher heute eine sehr genaue zeitliche und räumliche Vorstellung davon haben, was mit den Botenstoffbläschen in den Synapsen passiert, ist sein Verdienst.

Er habe nie auf Preise hingearbeitet, erst recht nicht auf den Nobelpreis. „Das kann man nicht planen“, sagt er und interpretiert die Bedeutung der Ehrung frei nach Andy Warhol: „15 Minuten Ruhm, Pomp, Spaß und Gelegenheit zum Feiern mit Freunden und der Familie.“ Einzigartig sei der Nobelpreis, weil dahinter eine lange Tradition sehr sorgfältiger und unpolitischer Auswahl steht. Nur wer wirklich etwas erreicht hat, bekommt ihn.

Wie groß die Freude über diese Anerkennung war, sieht man auf den Fotos, die er während seines Vortrags zeigt. Ein strahlender Südhof hält vor einem Porträt von Alfred Nobel die Medaille in die Kamera. „Ob er wohl einverstanden gewesen wäre?“ Drei Preisträger, die fröhlich mit blauen Ballons spielen – als Metapher für ihre Experimente, mit denen sie das Bläschen-Transportsystem in Körperzellen aufgeklärt haben. Ein Gruppenbild mit Königin Silvia von Schweden. Südhof trägt Smoking, ausnahmsweise.

Der Nobelpreis bringt ihm die deutsche Staatsbürgerschaft zurück

Ganz nebenbei bringt ihm der Nobelpreis die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Knapp eine Woche nachdem das Nobelkomitee bei ihm angerufen hatte, meldet sich auch das deutsche Generalkonsulat. Ob er wieder einen deutschen Pass haben möchte? Südhof zögert nicht.

Die Diskussion um sein Deutschsein nimmt er verwundert zur Kenntnis. Ja, er hat deutsche Wurzeln, er fühlt sich dem Land verbunden. Selbst nach dreißig Jahren in den USA hört jeder Muttersprachler noch immer den deutschen Akzent. „Ich muss nur meinen Mund aufmachen“, sagt er. „Meine Kinder machen sich darüber lustig.“ Doch Amerika ist längst sein Zuhause geworden, seine Nationalität spielt im Alltag keine Rolle. Schon gar nicht unter Wissenschaftlern.

Die zweite Nebenwirkung des Nobelpreises: Für sein Labor bleibt ihm im Moment wenig Zeit. Die Anfragen stapeln sich, viele muss er ablehnen. „Ich hoffe, das geht vorüber.“ Der Einladung der Will Foundation nach Berlin folgt Südhof trotzdem gern. Drei Tage lang trifft er Kollegen an der Charité, am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin und am Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie, Austauschstudenten aus Stanford und Doktoranden. Im Audimax der Freien Universität wagt Südhof ein Experiment: Zum ersten Mal hält er einen Vortrag auf Deutsch. Man solle ihm bitte nachsehen, falls er ab und an um Wörter ringt, schickt er als Warnung voran.

"Wir brauchen mehr Bescheidenheit"

Seine Botschaften sind vor allem eines: klar. Die Hybris des Human Brain Projects, das von der EU eine Milliarde Euro bekommen hat und innerhalb von zehn Jahren eine Computersimulation des menschlichen Gehirns erstellen soll, findet er verstörend. Supercomputer und Simulation. Wenig Tierversuche und trotzdem die Ursache von Krankheiten aufklären, das klinge alles sehr attraktiv. Er habe auch nichts gegen visionäre Ideen, sagt er. „Aber wir sollten nichts versprechen, das wir nicht halten können.“

Der Erdwurm C. elegans zum Beispiel habe nur 302 Nervenzellen, „das arme Tierchen“. Seit Jahrzehnten sei das gesamte Nervennetzwerk bekannt, jede Synapse. „Trotzdem gibt es kein Computermodell“, sagt Südhof. „Es ist unmöglich von der Struktur auf die Funktion zu schließen. Wir wissen zu wenig.“ Warum sollte es mit Milliarden Nervenzellen im menschlichen Gehirn auf einmal anders sein? „Wir brauchen mehr Bescheidenheit, sonst leidet die Glaubwürdigkeit der gesamten Forschung.“ Er erinnert an Nixon, der 1971 den Krieg gegen den Krebs ausrief. In zehn Jahren sollte die Krankheit heilbar sein. Daraus wurde nichts.

Die Enttäuschung über das Scheitern bekommen nicht nur die zu spüren, die grandiose Erwartungen geweckt haben. Das gelte auch für die Anwendungsforschung. „Es ist nicht so, dass Grundlagenwissenschaftler ihre Forschung nicht gern in der Klinik sehen wollen. Wir brennen darauf“, sagt er. „Aber vor allem in der Neurowissenschaft ist zur Zeit nicht viel da, das man anwenden kann.“ Wer trotzdem zu schnell auf klinische Studien poche, laufe Gefahr, viel Geld zum Fenster hinauszuwerfen.

Südhof ist bekannt dafür, dass er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält. Auch wenn das nicht immer zu neuen Freundschaften führt. Im Audimax der Freien Universität muss er sich darüber keine Sorgen machen. Während sich der Saal langsam leert, bilden seine Bewunderer eine lange Schlange. Geduldig beantwortet er Detailfragen, signiert Zeitungsartikel, lässt sich erklären, was er als Nächstes erforschen sollte. Ganze Schulklassen wollen ein Foto mit Südhof. Fast eine Stunde geht das so. „Es ist wunderbar, dass Sie so ansprechbar sind!“

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