zum Hauptinhalt
299076_3_xio-fcmsimage-20090909211935-006002-4aa7ffc7462e3.heprodimagesfotos87120090910wattisnditte.jpg

© dpa

Nordsee: Wachsen mit dem Meer

Von Gezeiten geprägt: An der Nordseeküste versucht man, Natur- und Küstenschutz unter einen Hut zu bringen. Die Dynamik des Wattenmeeres sollen allein in Deutschland drei Nationalparke und das Weltnaturerbe schützen.

Mit dem Wattenmeer würdigt die Weltkulturorganisation Unesco seit dem Sommer 2009 ein sehr bewegtes Weltnaturerbe. Das zeigt die Geschichte der Nordseeinsel Wangerooge. Schon im 14. Jahrhundert gab es dort bei der Nicolaikirche einen mächtigen Turm, den die Nordsee 1586 umlegte. 1602 entstand ein neuer Turm. 1860 beschädigte eine Sturmflut diesen schwer, um 1900 stand er im Wasser und 1914 sprengte ihn die Marine.

Ein Blick auf den Standort der Türme zeigt aber, dass nicht etwa unfähige Baumeister am Werk waren, sondern die Geologie der Grund der Zerstörung war: Die Fundamente des ersten Turms sollten heute fünf Kilometer westlich der Insel zu finden sein und der danach gebaute „alte Westturm“ entstand 1602 zwar im Osten der Insel, versank später aber an deren Westküste in den Fluten. Da Türme normalerweise eher schlecht zu Fuß sind, muss demnach die Insel gewandert sein und demonstriert damit eine Geografie in Bewegung.

Diese Dynamik des Wattenmeeres sollen allein in Deutschland drei Nationalparke und das Weltnaturerbe schützen. So verschwanden von der heute 8,5 Kilometer langen Insel Wangerooge zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert im Westen rund zwei Kilometer Land, im Osten kamen zur gleichen Zeit vier Kilometer dazu.

Die Ursache für diese Wanderung nach Osten sind die meist aus West oder Nordwest wehenden Winde und die aus der gleichen Richtung kommenden Sturmfluten. Sie spülen im Westen Land weg und lagern es im Osten wieder an. Wenn die Insel so nach Osten wandert, während das Inseldorf oder eben ein Turm fest an seinem Platz bleibt, erreichen diese Gebäude zwangsläufig irgendwann die Westküste und versinken dort im Meer.

Seit dem 19. Jahrhundert haben zwar Deiche und Steinwälle dem Inneren der Insel Wangerooge das Wandern abgewöhnt. Am Strand aber holen die Fluten wie seit Jahrtausenden den Sand und spülen ihn im Osten wieder an. Jedes Frühjahr fahren Radlader den dort abgelagerten Sand wieder zurück zum Strand vor dem Inseldorf, damit die Touristen im Sommer den Verlust nicht bemerken. Ähnlich ist die Situation auf vielen Nordseeinseln. So verliert Sylt jedes Jahr mit einer Million Kubikmeter die gleiche Menge Sand, die etwa 2000 Einfamilienhäuser füllen würde. Zum Ausgleich pumpen jedes Jahr Baggerschiffe Sand vom Grund der Nordsee auf den Strand.

Diese natürliche Erosion samt Wandern und Neuentstehen von Inseln hängt mit dem Titel „Weltnaturerbe Wattenmeer“ eng zusammen. Ein Watt entsteht nur in einem flachen Meeresgebiet, in dem aber die Gezeiten relativ stark sind. Die gesamte Deutsche Bucht in der Nordsee ist genau so ein Flachmeer, in dem im Rhythmus von Ebbe und Flut oft viele Kilometer breite Küstenstreifen trocken fallen und wieder überflutet werden. In diesem Wattenmeer, das manchmal Meer und manchmal Land ist, entstehen starke Strömungen, die an einer Stelle viel Material mitreißen und es andernorts wieder deponieren. Genau diese Strömungen nagen auch an den Küsten der Inseln.

An manchen Stellen bauen die Strömungen die Küsten nicht ab, sondern auf. Wo das Wasser seine Samen nicht mit dem Boden wegspült oder gleich die ganzen Pflanzen mitreißt, wächst in solchen Gebieten ungefähr an der Grenze zwischen Wattenmeer und Küste eine „Queller“ genannte Pflanze. Im Durchschnitt umspült zwei mal am Tag das Hochwasser seine Stängel. „Solche hohen Salzkonzentrationen hält kaum eine Pflanze aus, der Queller hat wenig Konkurrenz“, erklärt Wattenmeer-Experte Hans-Ulrich Rösner von der Naturschutzorganisation WWF in Husum. Deshalb wächst dort fast nur Queller und nichts anderes. In wärmeren Gefilden treten an seine Stelle Mangrovenwälder, denen es aber außerhalb der Tropen zu kalt ist.

Allerdings läuft das Hochwasser nicht jedes Mal auf die gleiche Höhe, weil die Gezeiten jeden Tag ein wenig anders sind und sie auch noch von Winden und Strömungen verstärkt oder abgeflacht werden. Manchmal steht der Queller also auch ein paar Tage ganz im Trockenen. Die höheren Hochwasser erreichen etliche Male im Jahr auch den ein wenig höher liegenden Uferstreifen direkt landeinwärts vom Queller. Da dort nicht täglich Meerwasser steht, gibt es weniger Salz. Deshalb können dann Pflanzen wie der Strandflieder, das Andelgras, die Keilmelde und die Salzaster leben. „Salzwiese“ heißt diese Landschaft.

Die Überschwemmungen bringen Sedimente mit, die sie andernorts weggerissen hatten. In der Salzwiese ist die Strömung nur noch sehr gering und dieses Material lagert sich leicht ab. Auch die Halligen im Wattenmeer Schleswig-Holsteins sind Salzwiesen, die ab und zu überflutet werden und daher jedes Jahr ein wenig in die Höhe wachsen.

Als der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer 1985 gegründet wurde, weideten auf den Salzwiesen vor den Deichen mit nur wenigen Ausnahmen überall Schafe, auf den niedersächsischen Salzwiesen grasten auch viele Rinder. Strandflieder und andere typische Pflanzen hatten dort kaum noch Chancen und Vögel wie der Rotschenkel brüteten auf den kurz gefressenen Salzwiesen nicht mehr. Seit 1991 wurde das Weiderecht auf diesem öffentlichen Land nicht mehr verlängert, wenn der Pächter die Pacht zurückgab. Heute knabbert im Nationalpark auf etwa der Hälfte der Salzwiesen kein Nutzvieh mehr an den Pflanzen. Die Blütenpracht ist wieder da.

Auch die meisten Vögel profitieren, weil sie in der hohen Vegetation vor Feinden geschützt sind. Aus jedem Nest schlüpfen im Durchschnitt mehr Küken, weil die Räuber die Gelege schlechter finden. Da Nutztiere keine Nester und Küken mehr zertrampeln können und die Jungtiere in der dichten Vegetation mehr Insekten als Nahrung finden als auf den beweideten Flächen, ist die Aufgabe der Weideflächen ein voller Erfolg, hat die Nationalparkverwaltung festgestellt.

Sie nennt noch ein weiteres Argument, das gegen eine Beweidung der Salzwiesen spricht. Während die nicht beweideten Salzwiesen im Vorland des Sönke-Nissen-Kooges zwischen 1991 und 2000 durch angeschwemmtes Land um 1,2 Zentimeter in die Höhe wuchsen, wurden die beweideten Flächen im gleichen Zeitraum nur 0,9 Zentimeter höher. Höhere Pflanzen halten also mehr angeschwemmten Schlick fest und verbessern damit den Küstenschutz. Auch die Halligen wachsen jedes Jahr zwei bis drei Millimeter, einige sogar vier Millimeter in die Höhe.

Bisher hat das gereicht, denn im 20. Jahrhundert stiegen die Meeresspiegel weltweit jedes Jahr im Durchschnitt um 1,7 Millimeter. Im 21. Jahrhundert aber dürfte der Klimawandel diesen Wert auf bis zu zehn Millimeter steigen lassen. Wachsen die Halligen dann nicht schneller, würden sie langsam in den Fluten versinken.

„Wenn der Meeresspiegel nicht zu schnell steigt und wenn die Menschen durch Klimaschutz und Anpassungsmaßnahmen gegensteuern, können die Wattflächen, Salzwiesen und Inseln aber durchaus mitwachsen“, sagt Rösner.

Während früher an dieser Stelle der Überlegungen Naturschützer mit dem Motto „der Natur ihren Lauf lassen“ leicht zum Feind der Küstenschützer wurden, die mit technischen Mitteln eben diesen Lauf der Natur bei Sturmfluten verhindern wollen, sieht die Situation heute viel besser aus. So diskutieren in Schleswig-Holstein die Bürgermeister der Halligen mit Küsten- und Naturschützern in der AG Hallig 2050, wie sich alle Interessen unter einen Hut bringen lassen.

„Menschen und ihr Eigentum müssen bei Sturmfluten geschützt werden“, sagt das WWF-Mitglied Rösner, der Mitglied in der AG Hallig 2050 ist. „Gleichzeitig muss aber die einmalige Wattenmeerlandschaft erhalten werden und die Küste muss sich an den Klimawandel anpassen können“, führt der Ornithologe weiter aus.

Wie man die Kräfte der Natur in Zukunft wieder mehr für den Küstenschutz nutzen kann, erläutert Rösner an einem Beispiel: Ähnlich wie auf Sylt könnte auch auf andere Inseln Sand aus dem Meer gespült werden, um die Erosion auszugleichen. Das Wachsen der Salzwiesen und Halligen durch natürlich aufgeschwemmten Schlick und die natürliche Dynamik der Sanddünen könnte stärker als bisher genutzt werden, um dieses „Wachsen mit dem Meer“ zu unterstützen.

„Patentrezepte für die Anpassung an den Klimawandel gibt es an der Küste heute noch nicht“, sagt Ulrich Rösner. Aber Natur- und Küstenschützer arbeiten gemeinsam mit den Bewohnern am Wattenmeer an diesen Rezepten.

Zur Startseite