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Ungeborener Patient. Föten mit offenem Rücken oder Herzklappenfehlern werden mitunter bereits im Mutterleib operiert. Sie sind dann etwa so alt wie dieses Kind in der 15. Schwangerschaftswoche.

© Mauritius Images

Operation vor der Geburt: Erste Hilfe im Mutterleib

Manche Babys müssen noch vor der Geburt operiert werden, etwa wegen eines Herzklappenfehlers oder einem offenen Rücken. Etwa 30 Zentren weltweit leisten Pionierarbeit.

Es ist 10 Uhr am Morgen. Eine junge Frau liegt narkotisiert auf dem Operationstisch am Deutschen Zentrum für Fetalchirurgie am Universitätsklinikum Gießen. Die Frau ist in der 23. Schwangerschaftswoche. Doch ihr Kind ist krank. Es hat einen offenen Rücken, eine Spina bifida. Bei diesem Defekt liegt ein Teil des Rückenmarks frei. Der Fetalchirurg Thomas Kohl schneidet drei ein Zentimeter kleine Schnitte in den Bauch der Frau. In zwei Öffnungen führt er langstielige Instrumente ein; durch die dritte Öffnung schiebt er ein Fetoskop, das Bilder aus dem Bauchinnern liefert. Auf zwei großen Monitoren erscheinen die Füßchen, dann der Rücken des ebenfalls narkotisierten Fötus. Gestochen scharf ist zu erkennen, wie sich knapp über dem Steißbein die Wirbelsäule über knapp zwei Zentimeter frei nach außen wölbt.

Ein Flicken aus Schweinedünndarm verhindert, dass Fruchtwasser an die Wunde gelangt

Mit den langen Instrumenten entfernt Kohl krankhaftes Gewebe um die offene Stelle am Rücken und näht einen „Patch“ über die Wunde. Dieser Flicken aus Schweinedünndarm soll einwachsen und verhindern, dass weiterhin Fruchtwasser zum Rückenmark dringt. „Das Wasser enthält unter anderem fetalen Stuhl, den das Rückenmark nicht verträgt. Wenn es lange vom Fruchtwasser umspült wird, sterben die Rückenmarksnerven ab“, sagt Kohl. Das Kind wäre dann später gelähmt oder zumindest gehbehindert.

Forscher aus den USA wiesen vor einigen Jahren nach, dass Operationen der Spina bifida im Mutterleib gute Ergebnisse liefern. Zwar kommen durch den Eingriff fast alle Kinder zu früh auf die Welt, im Schnitt um die 34. Schwangerschaftswoche. Doch die meisten können geistig gesund und ohne Rollstuhl leben, viele kommen sogar ohne Beinorthesen aus. Werden die Kleinen dagegen erst nach der Geburt am Rücken operiert, sind ihre Aussichten, alleine laufen zu können, nur halb so gut. Fast alle nachgeburtlich operierten Kinder müssen außerdem einen künstlichen Kanal unter die Haut gelegt bekommen, weil der Defekt am Rücken den Abfluss des Hirnwassers behindert. „Der Kanal, Shunt genannt, transportiert das Wasser vom Kopf in den Bauchraum, um Hirnschäden durch einen Stau der Flüssigkeit zu verhindern“, erklärt der Neuropädiater Bernd Neubauer vom Universitätsklinikum Gießen. „Kinder, die im Mutterleib operiert werden, brauchen ihn deutlich seltener.“

In Gießen wird mittels "Knopfloch"-Chirurgie operiert

Weltweit haben sich in den vergangenen 20 Jahren über 30 Zentren etabliert, die Spina-bifida-Operationen im Mutterleib anbieten. Doch der Ansatz in Gießen ist etwas Besonderes. Normalerweise öffnen die Ärzte den Bauch der Mutter mit einem großen Schnitt, ziehen den Fötus heran und operieren ihn durch die große Bauchöffnung. Es ist ein erheblicher Eingriff mit entsprechenden Infektionsrisiken und einer Narbe, die bei späteren Geburten reißen kann. Die minimal-invasive Methode von Kohl mit nur drei kleinen Schnitten ist für die Mutter schonender. Kohl hat die Methode selbst entwickelt, sie an rund 200 Schafföten geübt, bevor er sie vor zwölf Jahren erstmals am Menschen einsetzte. Lange Zeit war er der weltweit einzige Arzt, der die Technik beherrschte. Inzwischen hat er Kollegen in Istanbul und São Paulo angelernt.

Abwägungssache. Nur wenn eine bedrohliche Fehlbildung vorliegt, operieren Ärzte einen Fötus. Denn der Eingriff birgt die Gefahr einer extremen Frühgeburt.
Abwägungssache. Nur wenn eine bedrohliche Fehlbildung vorliegt, operieren Ärzte einen Fötus. Denn der Eingriff birgt die Gefahr einer extremen Frühgeburt.

© iStock

Über 100 kleine Patienten mit offenem Rücken hat er in Deutschland bereits behandelt. Die Kinder entwickeln sich ähnlich wie jene, die nach der sonst üblichen Schnitt-Methode vorgeburtlich operiert werden. Trotzdem sind viele Kollegen skeptisch. „Die Ergebnisse von Kohl sind zwar ermutigend. Er ist ein Pionier. Allerdings fehlt bisher eine umfassende Studie, die mit wissenschaftlichen Standards seinen minimal-invasiven Ansatz mit der klassischen Operationsmethode vergleicht“, sagt Christoph Berg vom Universitätsklinikum Bonn. Ähnlich sieht es Michael Tchirikov vom Universitätsklinikum Halle: „Um vor allem Mediziner im anglo-amerikanischen Raum zu überzeugen, muss Kohl weitere Studien vorlegen. Das ist üblich“, sagt er.

„Durch die Operation erhöht sich die Überlebenswahrscheinlichkeit auf über 80 Prozent“

Tchirikov und Berg operieren ebenfalls Föten im Mutterleib. Auch Zentren in Münster, Hamburg, Halle und München bieten das an. Die Gründe können vielfältig sein. In Bonn behandeln die Ärzte zum Beispiel Herzklappenfehler, fehlgebildete Lungenlappen, Flüssigkeitsansammlungen in der Brusthöhle oder verengte Harnröhren – in der Regel minimal-invasiv, also über kleine Öffnungen mit langstieligen Instrumenten. Besonders spezialisiert ist Berg auf die Zwerchfellhernie. Bei ihr hat das Zwerchfell ein Loch, sodass Magen, Darm und Leber durch die Öffnung in den Brustkorb drücken. Die Lunge hat dann keinen Platz, um sich zu entwickeln. Im OP setzt der Chirurg einen Ballon in die Luftröhre des Fötus. Dadurch erhöht sich der Druck im Brustraum, die Bauchorgane werden zurückgedrängt und die Lunge kann sich entfalten. Berg operiert Kinder, deren Überlebenschancen ohne den Eingriff bei höchstens 50 Prozent liegen. „Durch die Operation erhöht sich die Überlebenswahrscheinlichkeit auf über 80 Prozent“, sagt er.

20 bis 30 Zwerchfellhernien operiert Berg pro Jahr, sein tägliches Brot aber seien Zwillingsschwangerschaften. Auch in anderen Kliniken ist das so. Häufigste Ursache ist das Zwillingstransfusionssyndrom, das bei eineiigen Zwillingen auftreten kann, wenn sie sich eine Plazenta teilen. Relativ häufig kommt es dabei zu unerwünschten Gefäßverbindungen, sodass ein Fötus zu viel Blut erhält, während der andere zu wenig empfängt. Die Situation ist für beide Kinder lebensbedrohlich.

Nach dem Eingriff kommen die Kinder oft zu früh auf die Welt

„Ohne Behandlung sterben 80 Prozent der Babys. Wenn wir mit einer Operation helfen, überleben 80 Prozent“, sagt Kurt Hecher vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er hat vor über 15 Jahren die heute noch gängige Behandlung des Zwillingstransfusionssyndroms entwickelt. Für den Eingriff betäubt der Arzt die Schwangere lokal und eröffnet die Bauchdecke mit einem zentimetergroßen Schnitt. Dann schiebt er eine Laserfaser und ein Fetoskop durch die Öffnung, sodass auf einem Bildschirm die problematischen Blutgefäße zu sehen sind. Sie verschließt der Arzt mit dem Laser. „Die meisten Kinder kommen nach dem Eingriff gesund zur Welt. Lediglich acht Prozent haben neurologische Störungen, wie zum Beispiel Lähmungen oder geistige Behinderungen“, sagt Hecher. Ein wesentlicher Grund für Behinderungen seien Frühgeburten. Durchschnittlich kommen die Zwillinge nach dem Eingriff sechs Wochen zu früh auf die Welt. Problematisch seien Einzelfälle, bei denen die Geburt deutlich früher einsetzt.

Grundsätzlich birgt jede Operation am Fötus die Gefahr einer extremen Frühgeburt. Hinzu kommt das Risiko bleibender Schäden durch die Erkrankung des Babys. Schon deswegen bleibt ein Eingriff immer eine Abwägungsfrage. „Trotz der Möglichkeiten durch Fetalchirurgie treiben zum Beispiel je nach Bundesland 70 bis 90 Prozent der Eltern ein Kind mit offenem Rücken ab“, sagt Thomas Kohl. Vor einigen Jahren waren die Zahlen noch höher. Damals war die Fetalchirurgie unter Gynäkologen weniger bekannt. Entsprechend mangelhaft wurden betroffene Eltern aufgeklärt. „Heute wissen Frauenärzte besser, worauf sie achten müssen, wenn sie mit dem Ultraschall Föten untersuchen. Sie schicken Patientinnen öfter zu Fetalchirurgen, wenn eine Erkrankung vorliegt“, sagt Berg. Die Anzahl an Operationen im Mutterleib ist daher in den vergangenen Jahren gestiegen.

Julia Beißwenger

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