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Steinigung einer Stiefmutter, die ein Stiefkind getötet hat.

© picture alliance / Artcolor

Patchwork-Familien: Die Stiefmutter ist nicht immer böse

Wie es Kindern bei Stiefeltern ergeht, hängt von den Lebensbedingungen ab. Das gilt zumindest für ländliche Regionen in früheren Jahrhunderten.

„Was macht der garstige Unnütz in der Stube, sagte die Stiefmutter, fort mit ihr und in die Küche.“ Dort muss Stieftochter Aschenputtel bekanntlich Hülsenfrüchte sortieren, während die biologischen Töchter der Stiefmutter sich aufwendig für den Ball im Hause des Prinzen herrichten dürfen. Den „Cinderella-Effekt“ gebe es nicht nur im Märchen der Brüder Grimm, so postulierten es Martin Daly und Margo Wilson von der kanadischen McMaster Universität. Auch in der Wirklichkeit moderner Familien in den Industrienationen könne man ihn beobachten. Nicht nur Stiefväter, sondern auch Stiefmütter würden ihre sozialen Kinder drastisch häufiger misshandeln oder zumindest vernachlässigen.

Mit dieser Erkenntnis schockierten die beiden Psychologen Ende der 1990er Jahre die Öffentlichkeit in ihrem Buch „Die Wahrheit über Cinderella“. Daly und Wilson sehen die Benachteiligung als Folge des Bestrebens, vorzugsweise in die leiblichen Kinder zu investieren, um einen Selektionsvorteil für die eigenen Gene zu erreichen. Kinder aus früheren Verbindungen gingen „in Wiederverheiratungsverhandlungen als Kostenfaktor, nicht als Pluspunkt ein“. Wie passt diese eher düstere evolutionsbiologische Sicht zum Optimismus von Ratgeber-Autoren wie Jesper Juul, der von „Bonuskindern“ spricht, die Stiefeltern in Patchwork-Familien zugleich mit der neuen Partnerschaft geschenkt bekommen?

Beides muss kein Widerspruch sein – sofern die Lebensumstände für das Projekt Patchwork-Familie günstig sind. Das legt zumindest eine Untersuchung nahe, die nun in der Fachzeitschrift „Biodemography and Social Biology“ erschienen ist. Der Soziobiologe Kai Willführ vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock und sein kanadischer Kollege Alain Gagnon haben dafür Familiendaten durchforstet, die sie in Kirchenbüchern aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert gefunden hatten, die einen aus der ostfriesischen Region Krummhörn, die anderen aus einer Gegend, die heute zur kanadischen Provinz Québec gehört. Ihr besonderes Interesse galt der Frage, ob Kinder häufiger starben, bevor sie ihren 16. Geburtstag feiern konnten, wenn ihre verwitweten Väter oder Mütter früh wieder geheiratet hatten.

Bei den einen waren die Kinder zusätzliche Helfer, bei den anderen Konkurrenten

Ihr Ergebnis ist auf den ersten Blick verblüffend: Zwar sanken die Überlebenschancen aller Kinder um die Hälfte, wenn die leibliche Mutter früh starb. Doch nur in Ostfriesland halbierten sie sich nochmals, wenn der Vater wieder heiratete und eine Stiefmutter ins Haus einzog. In der kanadischen Region hatte es dagegen so gut wie keinen Einfluss auf das Überleben der Kinder, wenn sie eine Stiefmutter bekamen. Und nur in Kanada wirkte es sich zudem positiv aus, wenn eine verwitwete Mutter sich wieder vermählte und ihren Kindern einen sozialen Vater schenkte.

Der Schlüssel zum Verständnis dieser Unterschiede liegt für Willführ und Gagnon in den unterschiedlichen räumlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der beiden Regionen: Während in Kanada immer genug Land zur Verfügung stand, die Familien oft zehn Kinder oder mehr bekamen und helfende Hände als wertvoll betrachtet wurden, herrschte in der ostfriesischen Region eher räumliche Enge. Die Familien waren kleiner. Stiefkinder waren somit eher Konkurrenten als Verbündete der leiblichen Kinder. Der evolutionsbiologisch begründete „Cinderella-Effekt“ konnte somit voll durchschlagen.

Dass er immer und überall gilt, konnten die Forscher jedoch widerlegen: „Sowohl das elterliche Investment als auch der Cinderella-Effekt sind in höchstem Maß empfindlich für Umweltbedingungen und sozioökonomische Gegebenheiten.“ Auf die elf Prozent der Heranwachsenden, die laut Familienreport 2012 des Bundesfamilienministeriums heute in Deutschland in Patchwork-Familien leben, lassen sich die Studienergebnisse indes nicht so leicht übertragen: Denn sie sind meist keine Halbwaisen, ihre biologischen Eltern haben sich getrennt, bleiben aber im Idealfall beide für die Kinder verfügbar.

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