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Notfall Medizin. Dissertationen in dem Fach stehen in der Kritik: Sie seien oft zu oberflächlich, die Zitierweise lax. Die Medizinische Hochschule Hannover prüft derzeit die Doktorarbeit von Verteidigungsministerin Leyen. Wann es ein Ergebnis gibt, ist offen.

© imago/Rust

Plagiate bei Medizin-Promotionen: Die große Doktor-Prüfung

Der Fall Ursula von der Leyen und die Folgen: Was die Medizin gegen ihre Qualitätsprobleme bei Dissertationen tut und wie Fehlverhalten konsequenter verfolgt werden kann.

Um Ursula von der Leyens Plagiatsverfahren ist es ruhig geworden. Ein markanter Unterschied zum Fall Annette Schavan. Damals hatten sich ihre politischen Freunde – Professoren, Exponenten der Kirchen und sogar die Allianz der großen Wissenschaftsorganisationen – massiv ins laufende Verfahren eingemischt. Kaum eine Woche verging ohne Attacken auf die Universität Düsseldorf, die Schavans Arbeit zu untersuchen hatte. Die Verteidigungsministerin hingegen muss die Prozedur an der Medizinischen Hochschule Hannover ohne öffentliche Rückendeckung durchstehen, nicht anders als ihr Vorvorgänger Karl-Theodor zu Guttenberg oder andere Politiker mit verdächtigen Dissertationen. An ihrem politischen Schicksal sind einflussreiche Netzwerke in der Wissenschaft nicht interessiert.

Dafür lässt der Plagiatsverdacht gegen Leyen Debatten in der Wissenschaft wieder aufleben: über die Qualität der medizinischen Dissertationen und darüber, wie wissenschaftliches Fehlverhalten von den Universitäten konsequenter verfolgt werden kann.

Der Verdacht gegen Leyen

Ende September wurden Vorwürfe der Aktivisten von „Vroniplag Wiki“ bekannt, Ursula von der Leyens medizinische Dissertation aus dem Bereich der Frauenheilkunde, mit der sie 1991 an der Medizinischen Hochschule Hannover promoviert worden war, enthalte Plagiate. Plagiate sind wörtliche oder sinngemäße Textübernahmen, die nicht als solche kenntlich gemacht sind. Aktuell stuft VroniplagWiki bei Leyen 42 Stellen als plagiiert ein (hier die gesamte Dokumentation). Der Juraprofessor Gerhard Dannemann, der bei der Plattform mitarbeitet, hält den Fall für noch schwerer als den von Annette Schavan. Auf 43 Prozent der 62 Seiten der Arbeit gebe es Plagiate.

Die Dauer des Verfahrens

Die MHH hat Anfang Oktober eine „förmliche Untersuchung“ der Arbeit Leyens eingeleitet. Wann die Hochschule zu einem Ergebnis kommt, ist offen. Die Verfahrensregeln sehen keine Fristen vor, binnen derer die Hauptprüfung beendet sein muss. Ein Blick an die Berliner Charité zeigt, dass selbst bei vergleichsweise kurzen Dissertationen die Verfahren durchaus ein Jahr dauern können. VroniplagWiki listet aus der Charité derzeit 34 plagiatsverdächtige Arbeiten auf. Manche davon sind noch mal deutlich kürzer als Leyens Arbeit. Zum großen Teil sind die Fälle im Jahr 2014 öffentlich gemacht worden. Die meisten werden derzeit noch geprüft, sagt Volker Bähr, Leiter der Geschäftsstelle Gute Wissenschaftliche Praxis der Charité. Entschieden sind nur wenige. Erst in drei Fällen wurde der Titel auch entzogen.

Zwar habe sich bisher alles, was VroniplagWiki dokumentiert hat, „zu hundert Prozent bestätigt“, sagt Bähr. Gleichwohl ziehen sich die Verfahren hin, nicht zuletzt weil sie gerichtsfest und deswegen „penibel“ geführt sein müssen: „Die kleinsten Fehler können später Einfallstore für die Verteidigung sein“, sagt Bähr. Die Charité prüft auch nicht nur den Textteil einer Arbeit, sondern grundsätzlich zusätzlich die Primärdaten von Experimenten, um sich ein umfassendes Bild der unter Verdacht stehenden Arbeit zu machen. Oft ist es dabei mühsam, nach Jahren die Daten zu bekommen, selbst wenn Doktoranden eigentlich verpflichtet sind, diese für zehn Jahre zur Verfügung stellen zu können.

In einem Fall musste das Verfahren sogar abgebrochen werden. „Der Doktorand und der Betreuer haben sich hier gegenseitig die Schuld zugeschoben, voneinander abgeschrieben zu haben“, sagt Bähr: „Das war nicht abschließend zu klären.“

Die Probleme des Dr. med.

Der Dr. med. hat ein Qualitätsproblem – das hat der Wissenschaftsrat wiederholt festgestellt. Die Arbeiten seien wenig erkenntnisreich, zu kurz und zu oberflächlich, lauten die Vorwürfe – und die Zitierpraxis oft lax. Der HU-Jurist Dannemann spricht von einer „Subkultur des sukzessiven Abschreibens, ohne Inhalte zu überprüfen oder die wahren Quellen zu dokumentieren“.

Können sich Doktoranden, die nicht sauber zitieren, darauf berufen und auf mildernde Umstände hoffen? An der Frage scheiden sich die Geister. Die Berliner Ökonomen Gerd G. Wagner und Cornelius Richter haben im Tagesspiegel erklärt, bevor man Leyens Arbeit kritisiere, müssten 100 medizinische Doktorarbeiten geprüft werden, um Auskunft über die Praxis der Zeit zu gewinnen.

Als Schavan sich gegen die Entziehung ihres Doktorgrads vor Gericht wehrte, stellte dieses allerdings klar: Selbst wenn es in ihrer Fakultät üblich gewesen wäre, Textstellen ohne Kennzeichnung zu übernehmen, wäre das rechtlich unerheblich, weil eine solche Zitierpraxis dem Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit widersprochen hätte und damit rechtswidrig wäre. Auch Josef Pfeilschifter, Dekan der Unimedizin in Frankfurt am Main und Präsidiumsmitglied des Medizinischen Fakultätentags, sagt: „Für wissenschaftliche Arbeiten gelten in allen Fächer dieselben strengen Regeln, auch in der Medizin. Wir können keine anderen Standards beanspruchen.“

Wie die Medizin reagiert

Bisher bekommen in Deutschland 80 Prozent aller Medizinabsolventen den „Dr. med.“ – eine Quote, die die in anderen Disziplinen weit übertrifft. Anders als in anderen Disziplinen ist es in der Medizin auch üblich, die Dissertation schon während des Studiums zu schreiben, also ohne die Qualifikation des Examens – ein Niveauproblem. Der Wissenschaftsrat hat wiederholt vorgeschlagen, den Dr. med. nur noch an Mediziner zu verleihen, die eine echte Forschungsarbeit geschrieben haben. Absolventen, die keine Dissertation geschrieben haben, würden die Bezeichnung „Medizinischer Doktor“ (MD) als akademischen Grad tragen, wie es im angelsächsischen Bereich üblich ist.

Für Volker Bähr ist das die richtige Lösung: „Natürlich hängt die Qualität einer Doktorarbeit davon ab, mit welcher Motivation sie geschrieben wird.“ Wer den Titel nur für das Türschild der Praxis brauche, tauche eben wissenschaftlich nicht so tief in ein Thema ein. Die Charité setzt laut Bähr inzwischen auf anspruchsvollere „PhD“-Arbeiten (der PhD ist der Doktorgrad in angelsächsischen Ländern): „Die wird man kaum während des Studiums machen können.“ Die Charité hat in ihrem Modellstudiengang auch zusätzliche Module zum wissenschaftlichen Arbeiten implementiert. Am allerwichtigsten seien aber „gute Vorbilder und Arbeitsgruppenbesprechungen“, sagt Bähr: „Das ist allerdings am schwierigsten zu erreichen und nicht zu dekretieren.“

Der medizinische Fakultätentag hat den Medical Doctor wie den Verzicht auf die studienbegleitende Promotion allerdings immer abgelehnt. Das sei auch die aktuelle Beschlusslage, sagt Josef Pfeilschifter. Er verweist darauf, dass Mediziner ohnehin länger studieren als andere. Müssten sie eine Promotion da noch draufsatteln, sei es umso schwieriger, sie für die Wissenschaft zu begeistern. Allerdings prüft derzeit eine Arbeitsgruppe des Fakultätentags, was sich bei den medizinischen Dissertationen ändern muss – und zwar „ergebnisoffen“, wie Pfeilschifter sagt: „Wir müssen Missstände natürlich angehen. Wir sperren uns nicht gegen Vorschläge.“ Eine Idee könne sein, Promotionen im Studium zu beginnen, sie aber erst nach dem Abschluss zu beenden. Nach Pfeilschifters Meinung sinkt der Anteil der Studierenden, die bloße „Türschildforschung“ betreiben, ohnehin: „Bei uns in Frankfurt ist der Anteil der Promovierenden inzwischen auf 50 Prozent zurückgegangen.“

Was sich bei Plagiatsverfahren ändern soll

In Schavans Plagiatsverfahren hatten zahlreiche ihrer politischen Freunde behauptet, die Universität Düsseldorf missachte die in solchen Verfahren gebotenen Regeln. Entweder glaubten diese Kritiker dies wirklich. Oder sie wollten das Verfahren absichtlich ins Zwielicht rücken, um sein Ergebnis – die absehbare Aberkennung des Doktorgrads – in Zweifel ziehen zu können. Die Allianz, der Zusammenschluss der großen Wissenschaftsorganisationen, rief die Uni Düsseldorf in einer Pressemitteilung zur Ordnung und bedauerte später Schavans Rücktritt. Wolfgang Marquardt, damals der Vorsitzende des Wissenschaftsrats, erklärte sogar: „Die kommenden Verfahren werden anders ablaufen als die vergangenen.“

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf gab der Universität im Fall Schavan jedoch auf ganzer Linie recht, auch das Vorgehen sei makellos gewesen. Dass mit den Verfahren an den deutschen Fakultäten und zuständigen Kommissionen grundsätzlich etwas nicht stimmen soll, stellt auch Wolfgang Löwer, Juraprofessor in Bonn und Ombudsman bei der DFG, in Abrede. In 20 Entscheidungen hätten die Gerichte den Fakultäten recht gegeben. Es gebe also keine „Unsicherheiten“ bei den Unis, hat er erklärt.

Gleichwohl hat der Wissenschaftsrat im April empfohlen, eine „nationale Plattform“ zum Umgang mit Fehlverhalten einzurichten. Ombudsleute, die an den Hochschulen und Instituten für wissenschaftliches Fehlverhalten zuständig sind, sollten dort zu „gemeinsamen Bewertungsmaßstäben“ kommen und die Verfahren zum Umgang damit standardisieren. Wie die Plattform genau funktionieren soll, klärt eine Arbeitsgruppe, die Mitte nächsten Jahres Ergebnisse vorlegen soll.

Argwohn beim Hochschulverband

Der Hochschulverband begegnet diesem Vorschlag mit Blick auf den Fall Schavan mit Argwohn: Die Verfahren könnten durch die neue zentrale Einrichtung „zum Spielball für politischen Einfluss werden“, sagt ihr Sprecher Matthias Jaroch. Selbst wenn die Plattform keine Vorschriften erlassen dürfe, könnten ihre Empfehlungen „doch Bindungswirkung entfalten“ – und so auch Druck auf die Verfahren einzelner Fakultäten ausüben.

Der Plagiatsexperte Gerhard Dannemann findet es zwar gut, dass ein zentrales Diskussionsforum entsteht. Es sei aber falsch, es bei der Allianz anzusiedeln. „Die Allianz hat im Fall Schavan eine unrühmliche Rolle gespielt.“ Dannemann will die neue Plattform aber nicht überschätzt wissen. Letztlich seien die Verfahren an den Fakultäten klar geregelt. Sie würden nur oft nicht konsequent genug angewandt. Selbst in schweren Plagiatsfällen begnügten sich die Kommissionen oft mit „Rügen“ oder einer Herabsetzung der Note oder stelle ganz in Abrede, dass Fehlverhalten vorliege: „Kollegen tut man nicht gerne weh“, sagt Dannemann.

„Wir wissen alle, dass die Umsetzung das größte Problem ist“, sagt Ulrike Beisiegel, Präsidentin der Universität Göttingen, die an der Empfehlung des Wissenschaftsrats mitgewirkt hat. Deshalb solle die Plattform auch Fälle von schlecht laufenden Verfahren aufgreifen. Die Wissenschaft müsse sich selbst kontrollieren und besprechen, wo das System nachjustiert werden muss. Gerade im „aufgeheizten Fall Schavan“ wäre die Plattform hilfreich gewesen, meint Beisiegel. Die Universität Düsseldorf hätte sich Unterstützung holen können und gegebenenfalls den Rat, externe Gutachter ins Verfahren einzubinden, um Erziehungswissenschaftler zu beteiligen, sagt Beisiegel.

Damit bestätigt sie allerdings die Befürchtungen des Hochschulverbands, die neue Zentrale könne sich in Verfahren einmischen. Denn die Uni Düsseldorf hatte davon abgesehen, externe Gutachter miteinzubeziehen, weil auch Erziehungswissenschaftler massiv für Schavan Partei genommen hatten. Andererseits: Einflussreiche Politiker sind unter den vielen Plagiatsfällen nur Ausnahmen.

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