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POSITION: Für eine selbstbewusste Bildungsnation

Deutschland braucht nicht mehr Studenten, sondern ein besseres Schulsystem.

Es stimmt: Deutschland, das sich einmal als Bildungs- und Kulturnation verstand, hat die Prioritäten im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte falsch gesetzt. Der zentrale Schlüssel für einen vorsorgenden Sozialstaat ist die Bildung. Ein wesentliches Element von Ausschluss, von Perspektivlosigkeit und Aggression ist das Scheitern allzu vieler schon auf den untersten Stufen des Bildungsangebotes.

Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist erschreckend. Der Anteil der Arbeiterkinder am Studium war einmal durch die Bildungsexpansion in den späten 60er und Anfang der 70er Jahre, auch aufgrund der Einführung des Bafögs deutlich nach oben gegangen und sank dann drastisch mit Beginn der Regierung Kohl wieder ab. Die Umstellung des Bafög auf Darlehen hat dabei sicher eine Rolle gespielt. Entscheidender aber ist, dass die Bildungsexpansion vielen den sozialen Aufstieg ermöglichte. In einer Ökonomie dagegen, die nur ein geringes reales Wachstum aufweist, bedeutet sozialer Aufstieg der einen immer auch den sozialen Abstieg der anderen.

Es kann kein Zweifel bestehen, dass die frühe Weichenstellung für Gymnasium, Realschule oder Hauptschule den engen Zusammenhang zwischen familiärer Situation und Bildungserfolg verfestigt. Ein längerer gemeinsamer Bildungsweg wäre jedoch mit Leistungsanforderungen und differenziertem Eingehen auf unterschiedliche Begabungen und Interessen vereinbar, wie die erfolgreichsten Pisa-Länder, etwa Finnland, zeigen.

Keine Vorbilder können jedoch die Länder sein, die nur die Alternativen High School Diploma oder High School Dropout, College-Abschluss oder College-Dropout kennen. Die USA und Großbritannien haben in der Arbeitnehmerschaft einen weit höheren Anteil an Ungelernten als Deutschland. Im verarbeitenden Gewerbe macht sich dies besonders drastisch bemerkbar. Die gute Exportleistung der deutschen Wirtschaft, ihre internationale Konkurrenzfähigkeit hat auch mit diesem hohen Qualifikationsniveau unserer Arbeitnehmerschaft zu tun. Dabei spielt das im internationalen Vergleich immer noch hervorragende duale System eine wichtige Rolle.

Dieses hohe Qualifikationsniveau wäre gefährdet, wenn nur noch diejenigen, die zu weiteren Bildungsanstrengungen nicht in der Lage waren, den Weg in den Beruf suchten. Die Entwertung der nichtakademischen Bildungsabschlüsse sollten wir nicht von den USA importieren.

Das deutsche Gymnasium und die deutsche Universitätsausbildung müssen keinen internationalen Vergleich scheuen. Die Studienanforderungen für ein Physik-Diplom oder einen Philosophie-Magister sind hier höher als für die entsprechenden Master-Studiengänge an amerikanischen Universitäten. Wir büßen erst wirklich an Qualität ein, wenn es um die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses geht.

Die schlichte Interpretation der OECD-Statistiken aus der kürzlich vorgestellten Studie „Bildung auf einen Blick“ besagt, Deutschland müsse eine Akademisierungsquote etwa in Höhe der der USA erreichen. Dies hieße, die Absolventenzahlen mindestens zu verdoppeln. Dies halte ich für einen gefährlichen Irrweg, der die Stärken des deutschen Bildungssystems schädigt, ohne zugleich neue Stärken zu entwickeln. Zweifellos müssen die Abbrecherquoten gesenkt und damit die Absolventenquoten angehoben werden. Der Verdrängungswettbewerb von Absolventen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Fächer, auch der Jurisprudenz, ja zunehmend auch der BWL, der Biologie, der Geographie und der Architektur würde weiter verstärkt.

Der deutsche Arbeitsmarkt ist nicht mit dem amerikanischen zu vergleichen. Die Anforderungen im Dienstleistungsgewerbe wie im verarbeitenden Gewerbe an Qualifikation, an Präzision und Verlässlichkeit sind in den USA weit niedriger. Das weiß jeder deutsche Manager, der in den USA länger Verantwortung trug.

Die generelle These, dass die Zahl der Hochschulabsolventen in Deutschland viel zu niedrig sei, stimmt so nicht. In den 90er Jahren ist die Hochschulabsolventenquote um fast 50 Prozent gestiegen. In der gleichen Zeit sank die „Einkommensprämie“, also das zusätzliche Einkommen, das Akademiker gegenüber Nicht-Akademikern erwirtschaften, bei Frauen um acht und bei Männern um 15 Prozent – im Westen. Anders im Osten. Dort hat die elitäre Bildungspolitik der SED zu einer sehr niedrigen Akademikerquote geführt, so dass dort offenkundig noch eine starke Nachfrage besteht. Akademiker sind dort immer noch ein knappes Gut. Diese Daten stimmen mit österreichischen Erfahrungen überein. Es kann heute gar kein Zweifel bestehen, dass in Deutschland und Österreich eine massive Verdrängung weniger Qualifizierter aus ihren charakteristischen Berufstätigkeiten erfolgt.

Meine Empfehlung ist, die Unterschiedlichkeit der internationalen Situation ernst zu nehmen. Die Stärken Deutschlands, sowohl das duale System als auch die akademische Grundausbildung, dürfen durch Anpassung an vermeintliche internationale Standards nicht gefährdet werden. Vielmehr ist die Selektivität des Systems durch einen längeren gemeinsamen Bildungsweg, individuelle und differenziertere Förderangebote und Ganztagsschulen deutlich anzuheben. Kurz: Deutschland muss sich wieder stärker als Bildungsnation definieren und auch einen größeren Teil seiner ökonomischen Ressourcen dort investieren.

Der Autor ist Professor für politische Theorie und Philosophie an der Universität München und war 2001/2002 Kulturstaatsminister.

Julian Nida-Rümelin

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