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Der Koran – eine Quelle des Friedens oder der Gewalt? Wer so nach einer Essenz des Islam fragt, übersieht die vielen historischen, sozialen und politischen Kontexte, die menschliches Handeln prägen. Das Foto zeigt einen Moslem in Tunis.

© AFP

Position: Raus aus dem Containerdenken

„Der“ Islam, „der“ Westen: Die Suche nach einem „wahren Kern“ verschleiert komplexe Zusammenhänge, meint Gastautor Nils Riecken vom Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Wieder einmal steht das Verhältnis zwischen Islam und Gewalt zur öffentlichen Debatte. Die furchtbaren Ereignisse von Paris haben zu einer Fülle an Deutungsversuchen jener Beziehung geführt. Dabei geht es stets darum, welche Rolle „dem Islam“ in der Erklärung dieser Gewaltereignisse zukommen soll. In der Regel sind zwei scheinbar entgegengesetzte Erklärungsansätze erkennbar: Auf der einen Seite wird eine Verbindung zwischen Islam und Gewalt abgestritten, auf der anderen wird eine solche vehement behauptet. Beide Erklärungsansätze sind daher in mehrfacher Hinsicht problematisch: Sie arbeiten mit einem bestimmten, statischen Verständnis von Begriffen wie Islam, Religion und Gewalt sowie einer zu einfachen Form historischer Kontextualisierung.

"Hier" zivilisiert, "dort" barbarisch?

Beide Seiten benutzen „historische Fakten“ im Hinblick auf den Islam und Gewalt in häufig plakativer, stark verallgemeinernder und mythologisierender Weise, um die eigene Sichtweise zu untermauern. Koranzitate und das vermeintliche „Goldene Zeitalter“ eines von Toleranz geprägten Miteinanders von Muslimen, Christen und Juden im mittelalterlichen Andalus sollen beweisen, dass diese drei Religionen friedlich zusammenleben können. Andere Koranzitate, die Belagerung Wiens durch Truppen des Osmanischen Reichs, die Selbstmordanschläge in Israel, die Anschläge des 11. Septembers 2001 sowie die Anschläge von Madrid, London und jetzt Paris sollen indes das aggressive, gewalttätige Potenzial des Islams belegen. Ferner werden die Aufklärung, die Reformation und die Trennung von Staat und Kirche als mythologisierte Ereignisse und Lernprozesse „des Westens“ beziehungsweise „des Christentums“ und „des Judentums“ benutzt, um eine moderne und zivilisierte Welt „hier“ gegenüber einer mittelalterlichen, barbarischen Welt „dort“ in Stellung zu bringen.

Methodisch besehen ist daran besonders problematisch, dass Phänomene wie etwa „der Islam“, „der Westen“ oder „die Aufklärung“ als gewissermaßen zeit- und ortlos begriffen werden. Sie mögen irgendwann entstanden sein, aber werden in ihrem Kern als unwandelbar begriffen. So wie die Aussagen „Der Islam ist eine Religion des Friedens“ und „Der Islam will die Welteroberung“ verallgemeinernder Natur sind, generalisiert auch der Satz, der Westen stehe für Freiheit. In solchen Aussagen ist im Grunde nichts wirklich klar – weder, wer spricht, noch, wer handelt, noch wo, wann und weshalb sich das Ganze zuträgt. In einem solchen Denkrahmen verfügen Islam, der Westen und die Aufklärung unabhängig vom jeweiligen historischen Kontext über ganz bestimmte – gute oder schlechte – Qualitäten. So sollen sie uns vermeintlich direkt Auskunft darüber geben, wie Menschen, die diesen Einheiten zugerechnet werden, sich verhalten (können). Es sind also weitreichende Kausalitätsbehauptungen.

Scheinbar objektiv identifizierbare Ideencontainer

Essenzialisierende Perspektiven, also die Konstruktion von historischen und vielschichtigen Phänomenen wie etwa Islam, Westen und Religion als homogen, kohärent und von einem unwandelbaren Kern bestimmt, schaffen einen scheinbar klar und objektiv identifizierbaren Ideencontainer: Islam, Westen, Aufklärung werden so gegeneinander in Stellung gebracht, etwa zu einem „Kampf der Zivilisationen“. Alle Bewertungen des Islams – ob negativ oder positiv – sind dann bereits durch diese Containersicht vorgeformt. Da dieser Rahmen nicht zur Debatte gestellt wird, prägt er alle Antworten mit.

Das blendet systematisch komplexere sozio-kulturell-politische Konstellationen aus. Ist Armut oder Monotheismus ein Faktor für die Entstehung von Gewalt? Welche Rolle spielen Erfahrungen von Unterdrückung und Ausschließung? Bringt Gewalt wiederum Gewalt hervor? Wie sind Religionen im 20. Jahrhundert in politische Ideologien übersetzt worden, die in anderer Weise Gewalt legitimieren? Inwieweit bezieht sich der Islamismus auf Motive sowohl aus der religiösen Tradition des Islams als auch aus modernen politischen Ideologien oder etwa dem Antikolonialismus? Bestehen überhaupt die vermuteten direkten Kausalitätsbeziehungen zwischen Islam und menschlichem Handeln? Gibt es aus historischer Perspektive demnach eine Kontinuität des „Islams“ seit 1400 Jahren, wie ihn muslimische Theologen und nicht-muslimische Orientalisten gleichermaßen behaupten?

In einem essenzialistischen Bild des Verhältnisses von Islam und Gewalt lassen sich solche Fragen gar nicht erst stellen. Die Antworten stehen hier schon fest: Entweder steht ein Gleichheitszeichen oder ein Ungleichheitszeichen zwischen beiden Begriffen. Der Soziologe Niklas Luhmann kann hier weiterhelfen. Er hat argumentiert, dass die ganze Schwierigkeit für ein angemessen komplexes Verständnis gesellschaftlicher Kommunikation in der Kopula „ist“ liegt, also einer bestimmten Verbindung von Subjekt und Prädikat. Denn diese erwecke schon auf der Ebene der sprachlichen Äußerung den Eindruck, dass die Phänomene einfach so existierten und es keine Rolle spielt, wer diese Phänomene von wo aus wann beobachtet.

"Der Islam ist..." - sagt wer, aus welcher Perspektive, und warum?

Sätze wie „Der Islam ist friedliebend“ und „Der Islam ist gewalttätig“ erscheinen dann als absolut, ortlos und zeitlos. Luhmann ging es mit seiner Kritik nicht um einen leeren Perspektivismus, der lediglich alle Perspektiven nebeneinander stellt. Vielmehr plädierte er für eine soziologische Reflexion der Kommunikationsformen, die konsequent danach fragt, wer Realität von wo aus beobachtet und wie jede einzelne Beobachtung Teil von übergreifenden gesellschaftlichen Kommunikationsformen ist.

Aus dieser Perspektive lassen sich Aussagen wie „Der Islam ist…“ stets danach befragen, wer hier spricht, von wo aus und mit welchen Argumentationsformen. Fragen des Inhalts sind dann methodisch an die Frage nach der Form gebunden. Anders gesagt: Behandelt jemand – Bürger, Politiker, Wissenschaftler, Gläubige, Nicht-Gläubige – Begriffe wie Islam, Westen oder Aufklärung als zeitlose Containereinheiten, die durch einen Kern – etwa Gewalt oder Frieden – bestimmt sind, oder nicht? Spricht jemand als Wissenschaftler, als gläubiger Mensch oder als „besorgter“ Bürger? Sprechen diese über Begriffe wie Islam in normativer oder in analytischer Absicht? Geht es um ein- und ausschließende Identitätspolitik oder um ein (selbst)kritisches Bemühen, ein Thema besser zu verstehen, jenseits von klar gesetzten politischen Abgrenzungen?

Lammert argumentiert "eindimensional"

Auf die Ereignisse von Paris gewendet: Werden diese allein in den beiden Rahmen „Islam“ und „Gewalt“ diskutiert, oder werden diese Container aufgebrochen und damit über diese Form der Kontextualisierung der Ereignisse hinaus nach Gründen für die Anschläge gefragt? Ein Beispiel mag illustrieren, worin der Gewinn einer solchen Perspektive liegt. So entgegnet Bundestagspräsident Norbert Lammert auf Erklärungen, der Islam habe nichts mit Terrorismus zu tun, dass der Zusammenhang zwischen Islam und Islamismus ebenso offenkundig sei wie der zwischen „Kreuzzügen, Inquisition oder Hexenverbrennung und Christentum“.

Eine an Formen interessierte Berichterstattung könnte hier in einem ersten Schritt anmerken, dass er im Fall des Christentums nur mittelalterliche und frühneuzeitliche Beispiele nennt, während im Fall des Islams eine gewalttätige Gegenwart den Bezugspunkt darstellt. So bleibt ausgeblendet, dass Gewalt auch in unserer Gegenwart durch christliche Gruppen legitimiert wird. Das Christentum – und ein bestimmtes als deutsch definiertes „Wir“ – erscheint indes in der Gegenwart so, als ob es definitiv jene vormoderne Gewaltgeschichte überwunden habe. Gewalt wird außerdem allein als ein Problem von Religion dargestellt. Andere Quellen der Gewalt sind in Lammerts Bild nicht denkbar. Seine Form, historisch zu argumentieren, bleibt demnach eindimensional.

Doch greifen die Medien griffige Zitate wie das von Lammert nur zu gern auf, auch weil wir Leser unsere Aufmerksamkeit gerne von solchen Wortfetzen lenken lassen. Es kann also nicht um eine Politiker- oder Medienschelte gehen. Vielmehr sollten wir uns immer wieder die Frage stellen, welche Form öffentlicher Vernunft wir in unserer Kommunikation praktizieren wollen und wie viel Komplexität wir uns und anderen – damit sind alle gemeint: Politiker, Journalisten, Bürger – dabei zutrauen. Wer selbstbewusst die Aufklärungstradition in Anspruch nimmt, sollte sich einiges zutrauen dürfen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Die Langfassung des Textes findet sich auf www.alsharq.de, einem Forum junger Wissenschaftler und Journalisten, die zum Nahen Osten arbeiten.

Nils Riecken

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