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Position: Viele Geschichten in einem Europa

Für die Vielfalt: Ein gemeinsames Schulbuch wird dem Osten nicht gerecht. Ein Gastbeitrag von Simone Lässig

Kaum ein Tag vergeht, an dem unsere Politiker nicht die „europäische Wertegemeinschaft“ und deren historische Wurzeln beschwören. Der von Bundesbildungsministerin Annette Schavan ausgehende Ruf nach einem gemeinsamen europäischen Geschichtsbuch gehört in diesen Kontext. Auf den ersten Blick scheint die Idee, die Schavan noch vor ihrem jüngsten Vorstoß für deutschlandweit einheitliche Schulbücher formulierte, sehr plausibel: Entzünden sich gewaltsame Auseinandersetzungen nicht oft an kulturellen Diskrepanzen? Wäre es nicht hilfreich, wenn sich alle Europäer auf gemeinsame historische und kulturelle Traditionen besinnen könnten; jetzt, da Europa so viel bunter und vielgestaltiger, aber auch komplexer und unübersichtlicher geworden ist?

Für Historiker ist „Europa“ nicht statisch. Was Europa ist, wo seine Grenzen verlaufen, was als europäisch gilt – all das wurde und wird immer wieder neu definiert und mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen. Vor diesem Hintergrund erscheint der Versuch, über gemeinsame Erinnerungskultur sozialen Zusammenhalt zu stiften, wissenschaftlich bedenklich. Er ist aber auch politisch kontraproduktiv. Zum einen erinnert er ans 19. Jahrhundert: Damals wurden Nationen „erfunden“, um Staaten nach innen zu legitimieren und zu stabilisieren.

Die Konstruktion innerer und äußerer Feinde war Teil dieses Prozesses, ohne den die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts – der Erste Weltkrieg – nur schwer verständlich ist. Wenn Europas Protagonisten nun versuchen, Heterogenität durch Eindeutigkeit zu ersetzen, so weckt dies problematische Assoziationen.

Mit jedem Versuch einer historischen Legitimierung verbindet sich zudem die Tendenz zur Ausgrenzung. Wer Europa primär über griechisches Denken, römisches Recht, christlichen Glauben, Aufklärung und Menschenrechte definiert, läuft nicht nur Gefahr, dunkle Seiten wie den Kolonialismus oder den Holocaust auszublenden. Er tendiert auch dazu, Europa als primär westliches Projekt zu definieren. Kollektive Identitäten können jedoch nur dann sozial wirksam werden, wenn sie inklusiv ausgehandelt worden sind und an die Erinnerungen derjenigen anknüpfen, die integriert werden sollen. Die „neuen Europäer“ jedoch haben bislang vergebens auf eine „Osterweiterung“ des historischen Bewusstseins der langjährigen EU-Bürger gehofft. Letztere tun sich noch immer schwer damit, dass die Nation nicht überall historisch belastet ist.

Warum sollten sich etwa die Polen, die so lange „auf der Suche“ nach ihrer Nation waren, plötzlich von ihr distanzieren? Nur der Respekt vor der Verschiedenartigkeit der historischen Erfahrungen kann das Projekt Europa – vielleicht – zu einem Anliegen der Menschen machen. Wie aber lässt sich Vergangenheit so erinnern, dass auch die Perspektiven der jeweils anderen berücksichtigt werden? Diese Fragen prägen die wissenschaftliche Arbeit des Georg-Eckert-Instituts, das derzeit eine mehrsprachige Internetplattform „Europa im Schulbuch“ entwickelt, die eine Alternative zum europäischen Geschichtsbuch anbieten kann.

Mitarbeiter analysieren für die Zeit vom beginnenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, welche Vorstellungen von Europa die europäischen, aber auch nichteuropäische Staaten in ihren Geschichtsbüchern vermitteln. Besonders aussagefähige Texte, Karten und Bilder werden in einer Internetedition publiziert und kommentiert. Für vergleichende Forschungen und für die Öffentlichkeit bieten die so gesammelten, bisher kaum verfügbaren Deutungen ganz neue Möglichkeiten.

Wir analysieren auch, wie sich das Verständnis von Zentren, Peripherien und Grenzen historisch und aktuell wandelt und wie die Staaten in Reibung an vermeintlich nichteuropäischen „anderen“ ihre eigene Europäizität definieren. Dies schärft auch den Blick für scheinbar bekannte Sachverhalte. Während westeuropäische Schulbücher das Mittelalter als „europäisch“ beschreiben, ist es für viele ost- und ostmitteleuropäische Historiker die Periode positiv besetzter Eigenstaatlichkeit. Umgekehrt war das 19. Jahrhundert für die meisten Gründungsländer der EU die Zeit der Nationalstaatsbildung, für unsere Nachbarn aber eine Zeit der nationalen Entmündigung durch hegemoniale europäische Großmächte.

Müssen wir wirklich verbissen nach gemeinsamen historischen Wurzeln graben? Ist nicht mehr gewonnen, wenn wir Europa als Kommunikations- und Wissensgemeinschaft verstehen, eine Gemeinschaft, die für andere Deutungen offen und zum Verständnis von Gegensätzen fähig ist? Die Sammlung, Übersetzung, Analyse und freie Zugänglichkeit vieler verschiedener Europabilder könnte ein kleiner, aber wichtiger Schritt in diese Richtung sein.

Die Autorin Simone Lässig ist Direktorin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig.

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