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Eine Lesepatin liest vier Grundschulkindern aus einem Bilderbuch vor.

© Doris Spiekermann-Klaas

Position: Vorlesen als Schulfach: Literatur erleben und zur Ruhe kommen

Die Politik wirbt für das Vorlesen, Studien belegen, wie wichtig es für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist. Aber in der Schule wird das Vorlesen ab der 5. Klasse vernachlässigt. Ein Plädoyer für ein neues Schulfach.

Es ist erstaunlich, wie einig sich alle Experten sind. Wirklich niemand zweifelt daran, dass das Vorlesen wichtig ist für die Entwicklung von Kindern. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat anlässlich des Vorlesetags im Jahr 2013 Eltern dazu aufgerufen, mit ihren Kindern Bibliotheken aufzusuchen und sich dort mit „Lesestart-Sets“ auszurüsten. Auf diese Weise sollen Eltern zum Vorlesen motiviert und Kinder an Bücher herangeführt werden. In Berlin hat die alte und neue Bundesbildungsministerin, Johanna Wanka, in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin solche Sets höchstpersönlich übergeben. Bleibt zu hoffen, dass es sich bei diesem Akt um mehr als eine symbolische Geste gehandelt hat.

In zahlreichen Publikationen und Studien zum Thema, um das sich etwa die Stiftung Lesen verdient macht, geht es um die Bedeutung des Vorlesens für die Entwicklung von Kindern. Die Ergebnisse sind nicht überraschend. Es wird bestätigt, dass das Vorlesen sowohl die Lesefreude als auch das Leseverhalten fördert und dass es sich positiv auf den Erfolg in der Schule auswirkt. Wörtlich heißt es: „Eltern, die vorlesen, leisten einen zentralen Beitrag zu einer ganzheitlichen Erziehung ihrer Kinder. Sie fördern kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen.“ Darüber hinaus falle der Lese-„Knick in der Pubertät“ in der Regel nicht ganz so dramatisch aus bei Kindern, denen (viel) vorgelesen worden ist. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse kann jedes Elternteil, das den eigenen Kindern vorliest, bestätigen: Kinder sind nämlich wirklich in der Lage dazu, zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde lang einfach zuzuhören und sich auf Inhalte zu konzentrieren und natürlich erweitern sie langfristig sowohl ihren Wortschatz als auch ihre Ausdrucksfähigkeiten. Dass die Kinder sich im immer hektischer werdenden Alltag entspannen können, ist vermutlich der angenehmste Nebeneffekt.

Vorgelesen wird bestenfalls noch kurz vor Weihnachten

Wenn aber die Vorzüge derart offensichtlich sind: Warum gibt es dann keinen offiziellen Vorleseunterricht? Oder wenigstens eine offizielle Vorlesestunde? In Grundschulen mag das inoffiziell gang und gäbe sein, aber in der Regel wird schon in der fünften Klasse nicht mehr regelmäßig an Schulen vorgelesen, und spätestens in der siebten Klasse, in der die Heranwachsenden oft Opfer des Phänomens „Knick in der Pubertät“ werden und um Bücher zu ihrem eigenen Schaden einen großen Bogen machen, findet das Vorlesen an Schulen höchstens in Weihnachtsstunden statt.

Deshalb sollte besser heute als morgen in der Kultusministerkonferenz ernsthaft darüber debattiert werden, ob es nicht an der Zeit wäre, an weiterführenden Schulen das Fach Vorlesen einstündig verbindlich bis zur zehnten Klasse einzuführen.

Viele Geschichten sind aufregender als Spiele auf dem Bildschirm

Eine solche Stunde böte viele Möglichkeiten: Die kognitiven Fähigkeiten der Schüler – die heute nur noch Powerpointreferate präsentiert bekommen, selber präsentieren oder in Gruppen arbeiten – würden gefördert, und zwar auf angenehmste Weise. Das Fach Vorlesen könnte für fachübergreifenden Unterricht genutzt werden, wenn etwa in Geschichte der Erste Weltkrieg behandelt wird und die Schüler in der Vorlesestunde „Im Westen nichts Neues“ kennenlernen. Das Fach sollte ganz nebenbei den Schülern zeigen, dass Literatur unerhört spannend und eine herrliche Alltagsflucht sein kann und dass viele Geschichten aufregender sind als das aufregendste Spiel am Bildschirm.

Eine solche Stunde wäre auch eine Ruhephase, in der die Schüler sich vom strapaziösen Schulalltag erholen können. Eine Stunde, in der ihnen erlaubt sein sollte, den nach der zweistündigen Matheklausur dröhnenden Kopf auf den Unterarmen ruhen zu lassen und die Augen zu schließen. Eine Stunde, auf die Schüler und Lehrer sich freuen und die das oft von Leistungs- und Notendruck geprägte Klima an Schulen verbessern würde.

Lehrer würden liebend gerne Vorlesestunden geben

Natürlich würde eine solche Stunde auch Klassengemeinschaften stärken. Die Klassen könnten sich ein Buch aussuchen und es gemeinsam lesen. Es wäre für viele Schüler eine ungewohnte Situation, vorzulesen, aber im Idealfall würden sie ihre Vorlesekompetenz und dadurch ihr Selbstbewusstsein stärken, das an Schulen viel zu oft ausschließlich durch Noten gestärkt (oder geschwächt) wird.

Dafür braucht es kein Lehrpersonal mit Vorlesediplom, sondern Menschen, die begeistert sind oder die sich begeistern lassen. Sobald jemand mit Begeisterung vorliest, ist es fast egal, ob er so fulminant betont wie Rufus Beck oder ob er manchmal stottert oder den Faden verliert. Lehrer wären in solchen Stunden nicht bloß die Notengeber, sondern plötzlich würden sie ganz anders – menschlicher – wahrgenommen werden. Sicher findet sich in jedem Kollegium ein Dutzend Lehrer, die sich bereit erklären würden, einige Stunden ihres Deputats vorzulesen. Der Effekt wäre langfristig gewaltig.

Arne Ulbricht, 41, unterrichtet an einem Berufskolleg in NRW Französisch und Geschichte. Er ist Autor des Buchs „Lehrer: Traumberuf oder Horrorjob“. Mehr Informationen finden Sie hier.

Arne Ulbricht

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