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Weiter als die nichtbehinderte Konkurrenz. Markus Rehm sprang 8,24 Meter und wurde mit dieser fantastischen Leistung Deutscher Meister. Wegen seiner Prothese darf er jedoch nicht bei den Europameisterschaften starten.

© picture alliance / dpa

Prothesen im Sport: Federnder Fortschritt

Sind Prothesen Handicap oder Hilfe? Forscher streiten nach dem sagenhaften Sprung von Markus Rehm darüber, welchen Anteil die Technik bei Spitzenleistungen hat.

Mit einem sagenhaften Sprung von 8,24 Metern ist Markus Rehm Deutscher Meister im Weitsprung geworden. Trotzdem hat der Deutsche Leichtathletik-Verband entschieden, dass er nicht bei der EM in Zürich antreten darf. Der Unterschenkel, den Rehm bei einem Unfall verloren hat, wird beim Sport durch eine hochentwickelte Karbonprothese ersetzt. Ist damit aus seinem Handicap ein Wettkampfvorteil geworden? Die Leistungen mit und ohne Prothese seien nicht vergleichbar. Rehm ziehe beim Absprung seine größte Energie aus seinem künstlichen Sprunggelenk, sagte der Biomechanik-Experte Veit Wank von der Uni Tübingen. Der beidseitig unterschenkelamputierte südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius dagegen durfte 2012 bei den Olympischen Spielen in London über 400 Meter mit seinen „Flex Foot Cheetah“ antreten, futuristisch anmutenden federnden Stelzen aus Karbon.

Eine Prothese ermüdet nicht, anders als ein Muskel

Gert-Peter Brüggemann vom Institut für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule Köln hatte 2008 festgestellt, Pistorius habe durch die Mechanik der Prothese deutliche Vorteile. Im Unterschied zu menschlichen Muskeln ermüde die mechanische Feder nicht, schenke dem Läufer sogar als Zwischenspeicher besonders viel von seiner eigenen Energie zurück.

Das blieb nicht unwidersprochen. Der texanische Biomechanik-Fachmann Peter Weyand kam 2009 zu dem Schluss, dass sich Energieverbrauch und Sauerstoffaufnahme zwischen Spitzenläufern auf zwei eigenen Beinen und Sprintern mit Karbonprothesen nicht unterscheiden. Unterschiede gebe es bei konkreten Bewegungsabläufen, also bei der Mechanik des Laufens.

Alina Grabowski vom Massachusetts Institute for Technology und ihre Kollegen berichteten dann 2010 im Fachblatt „Biology Letters“ über Ergebnisse ihrer Messungen bei sechs Sprintern, die einseitig eine Karbonprothese trugen. Die Forscher analysierten zusätzlich Läufe mit und ohne Prothese anhand von Videoaufzeichnungen. Ihre Schlussfolgerung: Selbst die modernsten Karbonkonstruktionen erschweren die Kraftentwicklung und begrenzen die Top-Geschwindigkeit.

Wie viel kann eine Feder leisten? „Sollte sich bestätigen, dass es in Punkten wie Gewicht oder Effizienz der Energierückgewinnung über die elastische Karbonfeder doch Vorteile gibt, dann könnte man leistungsbegrenzende Strukturen in Prothesen einbauen“, meint der Sportwissenschaftler Martin Grimmer von der TU Darmstadt. Es sei schwer, einen Maßstab für Fairness bei Wettkämpfen zwischen Läufern auf Prothesen und solchen auf eigenen Beinen zu finden.

Prothesenträger haben es schwerer als andere Sportler

Für den Biomechanik-Experten Felix Starker vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart ist klar: Auch auf Karbonfederfüßen werden es Prothesenträger immer schwerer haben als andere Sportler. „Der verbleibende Beinstumpf ist druckempfindlich. Hinzu kommt, dass die verbleibende Muskulatur sich meist zurückgebildet hat.“ Inklusion sei erstrebenswert, doch plädiere er für gemeinsame Wettbewerbe in getrennten Kategorien, „um das technische Hilfsmittel nicht in direkte Konkurrenz mit dem natürlichen Vorbild zu stellen“.

Gegen eine solche direkte Konkurrenz ist auch die Philosophin und Sportwissenschaftlerin Claudia Pawlenka von der Uni Frankfurt am Main. Wettkampf sei „seiner Idee nach ein Materialtest für Natur und nicht für Technik“, schreibt sie in ihrer Habilitation zu „Ethik, Natur und Doping“. „Der Sinn der Unsinnigkeit eines 400-Meter-Laufs liegt nicht darin, möglichst schnell auf eine wie immer geartete Weise von A nach B zu kommen, sondern dies auf natürliche Weise, das heißt aus eigener Kraft zu tun.“ Unterschiede in der Leistungsfähigkeit, die sich der „natürlichen Lotterie“ des Lebens verdankten, dürften für einen sportlichen Wettkampf gerade nicht nivelliert werden.

Große Worte, große Debatten. Sportethische Grundsatzfragen wie die nach Inklusion, fairem Vergleich mit nichtbehinderten Athleten und tieferem Sinn des Sports beziehen sich in der Realität allerdings auf eine kleine Minderheit der Beinamputierten. „Allenfalls 3000 bis 4000 unter ihnen treiben intensiv Sport und tragen eine eigens dafür angefertigte Prothese“, sagt René Schiller, Geschäftsführer von Össur-Deutschland, Hauptlieferant der Karbonfedern für Sportler.

Anlass für eine Amputation ist meist schlechte Durchblutung

Es gibt kein Register, doch in jedem Jahr gibt es in Deutschland zwischen 40 000 und 50 000 Amputationen der unteren Extremitäten, rund 120 000 Menschen nutzen eine Beinprothese. Extrem selten sind angeborene Fehlbildungen der Grund, wie Oscar Pistorius sie hatte. In vier von fünf Fällen sind schwere Durchblutungsstörungen die Ursache für eine Amputation, die meist Menschen im gesetzteren Alter haben. Weit seltener trifft es junge, sportliche Menschen nach einem Unfall oder infolge von Krebs.

Wie Diana Schütz, die schon jung ein Bein verlor. Sie ist Sportbeauftragte beim Bundesverband für Menschen mit Arm- und Beinamputation. Ihr Ziel: Amputierte sollen im Alltag zusammen mit Nichtamputierten Sport machen können. „In einen Sportverein eintreten, ins Fitness-Studio, auf die Skipiste und in die Kletterhalle gehen.“ Die Aufmerksamkeit, die Rehm und Pistorius finden, weil sie um eine Teilnahme an normalen Wettbewerben kämpfen, findet Schütz gut. „Das verschafft anderen Amputierten und Gehbehinderten Aufmerksamkeit.“

Zwischen Alltag und ambitioniertem Sport klafft für Prothesenträger aber eine große Lücke. Alltagsprothesen werden von der Krankenkasse bezahlt, auch solche, mit denen man ins Schwimmbad gehen kann. „Wenn es um Sport geht, muss man sich aber selber kümmern“, sagt Schütz. Die Spitzenathleten seien hier Vorreiter, sie dürften individuell abgestimmte Federn ausprobieren, „die wir wahrscheinlich nie sehen werden“.

„Mit einem Preis im mittleren vierstelligen Bereich sind Sportprothesen allerdings nicht teurer als ein Rennrad der Spitzenklasse“, sagt Karsten Ley, Sprecher der Firma Otto Bock, dem größten Hersteller von Beinprothesen weltweit. Alltag und Leistungssport würden sich in der Prothetik befruchten. „So ist das Sportknie aus einer Alltagsprothese entstanden. Umgekehrt werden sich Überlegungen zu Karbonsprintfüßen in Zukunft auch in alltagstauglichen Modellen niederschlagen“, erläutert Ley.

Sportprothesen sind teure Sonderanfertigungen

Weil Serienproduktionen kaum möglich sind, werden diese Entwicklungen aber nicht zu Kostensenkungen führen, meint Össur-Geschäftsführer Schiller. Schiller wünscht sich, dass Sport als Grundbedürfnis von Beinamputierten anerkannt wird und dass die Krankenkassen auch Sportprothesen bezahlen.

Sportwissenschaftler der TU Darmstadt möchten eine Prothese entwickeln, die Aufgaben des Beins umfassend nachahmt. „Sportprothesen sind nur Lösungen für eine einzige Tätigkeit, sie erlauben kein stabiles Stehen und bilden nicht die Vielfalt dessen ab, was der Mensch machen möchte“, sagt der Sportwissenschaftler Martin Grimmer.

Analysen der Abläufe beim Stehen, Gehen, Treppensteigen und Rennen haben die Forscher zu Modellen geführt, bei denen ein Motor die Aufgabe der Muskeln und eine Feder die der Achillessehne erfüllt. Getestet wurden Komponenten von Prothesen an gesunden Versuchspersonen. Es ging zum Beispiel darum, die Härte der Achillessehne je nach Bewegungsart unterschiedlich einzustellen. Zusammen mit der US-Firma Springactive entwickelt Grimmer eine „Walk-Run-Ankle-Prosthesis“. „Wir hoffen, damit einen Kompromiss zwischen den Anforderungen in Alltag und Sport gefunden zu haben.“ Prothesen mit Motoren kommen allerdings für Wettbewerbe nicht infrage.

Am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung tüftelt Maschinenbauingenieur Felix Starker derweil an individuellen Lösungen. Für Sportler, die an den Paralympics teilnehmen wollen, aber auch für Ältere ohne sportliche Ambitionen. Da geht es zum Beispiel um eine wasserfeste Prothese aus leichtem, aber stabilem Kunststoff. „Die meisten Amputierten sind ja schon froh, wenn sie ihren Alltag bewältigen“, sagt Starker. Dafür sind aber die Produktionsverfahren der Fraunhofer-Ingenieure medaillenverdächtig. Die Badeprothesen-Unikate werden über 3-D-Druckverfahren hergestellt.

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