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Weggesperrt. Geistig Behinderte – hier eine Szene aus dem Propagandafilm „Erbkrank“ aus dem Jahr 1935 – galten als unwertes Leben. Viele von ihnen wurden für medizinische Experimente missbraucht und umgebracht. Foto: akg-images

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Psychiater in der NS-Zeit: "Es war nicht das Werk von wenigen Fanatikern"

Späte Reaktion: Deutsche Psychiater diskutieren offen über ihre Nazi-Vergangenheit. Forschungen haben ergeben, dass die Zahl der Zwangssterilisationen höher war als ursprünglich angenommen.

„Geistig tot. Das Krankenblatt sollte abgeschlossen werden, da sich auch in Zukunft nichts ändern wird. Der einzige Eintrag, der sich lohnt, ist die Notiz des Sterbedatums.“ 1939 schrieb das ein Psychiater in die Akte seiner schizophrenen Patientin. Damit war er auf der Höhe – besser auf dem Tiefpunkt seiner Zeit. Denn 1939, rückdatiert auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, hatte Hitler die Ermächtigung (eher ein Befehl) zur Tötung unheilbar Kranker unterschrieben.

Jetzt, 70 Jahre nachdem eine Kampagne begann, die mindestens eine Viertelmillion Krankenmorde zur Folge hatte, wird die Schuld deutscher Psychiater zunehmend zum Thema gemacht. So zum Beispiel auf dem Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, der unlängst in Berlin stattfand. Dort gab es eine Gedenkveranstaltung, eine Ausstellung und wissenschaftliche Vorträge zum Stand der Forschung über die medizinischen Verbrecher der NS-Zeit.

Erst in den letzten Jahren ergaben diese Forschungen, dass die – noch immer unsichere – Zahl der Zwangssterilisationen, der inhumanen Experimente und der Krankentötungen viel höher ist als ursprünglich angenommen. Auch konnten neuere wissenschaftliche Erkenntnise drei „Mythen“ entkräften, die jahrzehntelang das Bild der Nazi-Medizin bestimmten, wie der Gießener Psychiater und Medizinhistoriker Volker Roelcke ausführte.

Der erste dieser Mythen: Nur einzelne fanatische Nazi-Ärzte hätten medizinische Verbrechen begangen, und im Wesentlichen habe die Politik der Medizin die Krankenmorde aufgezwungen. In Wirklichkeit haben Mediziner selbst die Initiative ergriffen: für das Programm der Zwangssterilisation vermeintlich Erbkranker, die Patiententötungen und die inhumanen Experimente an Menschen in Konzentrationslagern, Heimen und Krankenhäusern.

Auch die lange verbreitete Annahme, diese Verbrechen seien allein aus der Nazi-Ideologie zu erklären, nannte Roelcke einen Mythos. Eugenische und rassenhygienische Vorstellungen waren seit Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Nur die rücksichtslose, selbst tödliche Umsetzung solcher Ideen war allein unter den Bedingungen einer Diktatur möglich.

Ein Mythos sei auch die Meinung, die medizinischen Experimente zum Beispiel an KZ-Häftlingen und psychiatrischen Patienten seien durchweg nur pseudowissenschaftlich gewesen. Es war vielmehr die wissenschaftliche Elite der deutschen Medizin, auch der Psychiatrie, die begierig nach dem „Forschungsmaterial“ griff. Nach Patientendaten, nach Versuchspersonen (ohnehin „lebensunwerte Ballastexistenzen“) und nach anatomisch-pathologischen Präparaten zum Teil eigens hierfür Getöteter. Noch lange nach 1945 wurden solche Präparate für Forschung und Lehre verwendet.

Mentalitäten, Motivationen und Verhaltensweisen, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus radikalisierten, sind nach Ansicht Roelckes heute noch weit verbreitet. Gerade in einer Ära der Sparzwänge können Ärzte und Wissenschaftler unter den Einfluss derer geraten, die Geld und Macht haben, warnte er. Die Tendenz sei ungebrochen, Forschungsobjekte unter den Schwächsten und dort zu suchen, wo es die wenigsten ethischen und juristischen Hindernisse gibt – zum Beispiel in Entwicklungsländern, wo zahlreiche Studien angesiedelt sind.

Auch heute haben Forscher den Ehrgeiz, das Leiden um jeden Preis abzuschaffen, die genetische Ausstattung und die Leistungsfähigkeit von Individuen oder Gruppen zu verbessern, sagte Roelcke. Die Gefahr von Grenzüberschreitungen sieht er in der gegenwärtigen Medizin gleichermaßen. Der einzelne Mensch dürfe seinen Platz im Mittelpunkt medizinischen Denkens und Handels nicht verlieren, mahnte der Wissenschaftler.

Sigmund Freud hat immer gefordert, Belastendes nicht zu verdrängen, sondern in Erinnerung zu rufen und durchzuarbeiten. Warum gerade die Fachgesellschaft der Psychiater damit in eigener Sache viel später anfängt als zahlreiche andere betroffene Institutionen, fragen sich nicht nur Außenstehende. Auch Frank Schneider, Präsident der Gesellschaft und ihres Berliner Kongresses, hat dafür keine Erklärung.

In seiner Rede auf der sehr bewegenden Gedenkveranstaltung für die Opfer der Psychiatrie in der Zeit des Nationalsozialismus äußerte er Scham darüber, dass die Fachgesellschaft diesen Teil ihrer Geschichte so lange ausgeblendet und nicht einmal nach 1945 an der Seite der Opfer gestanden habe: „Wir hatten Anteil an ihrer erneuten Diskriminierung und Benachteiligung.“ Die Zwangssterilisierten (von denen 6000 an dem Eingriff starben) seien noch immer nicht ausdrücklich als Verfolgungsopfer anerkannt, weil sie nicht aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt wurden.

Die wesentlichen Fakten vor allem der Krankentötungsaktion „T 4“ seien mindestens seit Anfang der achtziger Jahre erforscht. Die Adresse der Dienststelle, von der die Meldebögen zur Erfassung aller Psychiatriepatienten verschickt wurden, lautete Tiergartenstraße 4. Dort wurde dann – vor allem in Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit – über Leben oder Tod der Kranken entschieden. Von den 50 eingesetzten Gutachtern wurden drei nach dem Krieg Präsidenten und zwei sogar Ehrenmitglieder der psychiatrischen Fachgesellschaft, berichtete Schneider. Im Namen der deutschen Psychiater bat er die Opfer und ihre Angehörigen um Verzeihung.

Die Psychiatrie-Gesellschaft hat eine unabhängige Kommission namhafter Wissenschaftshistoriker zur Aufarbeitung der Geschichte ihrer Vorgänger-Gesellschaft einberufen. Den Vorsitz hat Volker Roelcke, die anderen Mitglieder sind Paul Weindling (Oxford), der den Plan einer Gedenkstätte an der Tiergartenstraße lebhaft befürwortete, Heinz-Peter Schmiedebach (Hamburg) und Carola Sachse (Wien).

Sie sprach über ihre Erfahrungen mit „Bußritualen“ und wissenschaftlichen „Aufarbeitungen“. Sachse war an dem großen, zwischen 1997 und 2005 laufenden zeithistorischen Projekt der Max-Planck-Gesellschaft, früher Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, führend beteiligt. Ihre Schlussfolgerung: „Wie man an späteren Hochglanzbroschüren der Max-Planck-Gesellschaft sieht, mündet historische Aufarbeitung nicht notwendig in lebendige Erinnerung.“

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