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Psychologie: Die Trauma-Industrie

Menschen, die Schlimmes hinter sich haben, werden heute oft psychologisch betreut. Sie sollen sich das Erlebte von der Seele reden. Aber ist das immer zu ihrem Besten?

Als im Jahr 1966 eine Kohlehalde im walisischen Aberfan abrutschte und eine Schule unter sich begrub, starben 166 Kinder. Psychologische Betreuung gab es für die Überlebenden nicht, nach zwei Wochen wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Heute wäre das anders: Nach der Geiselnahme in Beslan im Jahr 2004 ließ Unicef 700 Schüler auf posttraumatische Stresssymptome hin untersuchen und stellte 350 speziell ausgebildete Mitarbeiter für sie bereit. Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ist zur Modediagnose geworden, doch inzwischen wird sie auch vielfach kritisiert.

Grundsätzlich beschreibt das Störungsbild zwei gegensätzliche Verhaltenstendenzen: Bewusst versuchen die Betroffenen jede Erinnerung an die traumatische Situation zu meiden, unwillkürlich kehrt sie aber immer wieder – mit einem Mal haben sie den Brandgeruch erneut in der Nase oder das Bild des Vergewaltigers vor Augen. Offiziell anerkannt wurde die Posttraumatische Belastungsstörung erst 1980 mit der Aufnahme in das US-Krankheitsmanual. Zuvor hatten Naziopfer, Vietnamveteranen und Frauengruppen jahrelang darum gerungen, dass Mediziner die Auswirkungen von Verfolgung, Krieg und Vergewaltigung ernst nahmen. Heute gehen medizinische Vereinigungen selbstverständlich mit der Diagnose um: Der amerikanische Psychiaterverband meldet, dass acht Prozent aller Menschen im Laufe ihres Lebens einmal an PTSD erkranken würden, der Weltgesundheitsorganisation zufolge ist die Störung in Krisengebieten fast alltäglich.

Dass die Störung so häufig diagnostiziert wird, liegt, so bemängelt die Psychiaterin Judith Herman von der Harvard Medical School, vor allem an der vagen Definition des Auslösers. So ist im Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation lediglich von einem „Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung und katastrophenartigen Ausmaßes“ die Rede – eine Beschreibung, die einen weiten Interpretationsspielraum lässt.

Neben dieser unklaren Begriffsbestimmung kritisiert der britische Psychiater Derek Summerfield vor allem den Umgang mit der Diagnose in Krisengebieten, wo seiner Meinung nach eine „Trauma- Industrie“ herrscht. Durch Katastropheneinsätze im Ausland würden sich Psychologen Arbeit sichern, den Einheimischen werde durch die therapeutischen Maßnahmen indes oft kaum geholfen. Das liegt laut Derek Summerfield an den elementaren Unterschieden im Menschenbild: Während in der hiesigen Gesellschaft das Individuum im Vordergrund steht, ist in nichtwestlichen Ländern die Gemeinschaft der Bezugspunkt. Insofern sind auch die Probleme anders gelagert. So berichtet Summerfield von Flüchtlingen in Mosambik, die sich von Geistern verfolgt fühlten, weil sie ihre toten Verwandten nicht gemäß ihrer Riten beerdigen konnten. Darüber hinaus ist, wie Arthur Kleinman, Experte für interkulturelle Psychiatrie, bemerkt, die Trennung von Geist und Körper ein rein westliches Konzept. Bei Angehörigen anderer Kulturkreise zeigen sich seelische Probleme meist in somatischer Form. Manche arabische Sprachen verfügen beispielsweise über keinen Begriff für „Depression“, sie nennen diesen Zustand „Herzleiden“.

Besonders virulent ist die Frage nach der Kulturgebundenheit von Symptomen beim Umgang mit Flüchtlingen. Der Verlust der Heimat sei eine traumatische Erfahrung für Menschen, erklärte der UN-Generalsekretär anlässlich des Weltflüchtlingstages im Juni dieses Jahres. Nach Ansicht von Barbara Abdallah-Steinkopff, Psychologin am Flüchtlingszentrum Refugio in München, liegt das Leid von Flüchtlingen jedoch oft weniger in den Ereignissen in ihrem Herkunftsland als vielmehr in ihren aktuellen Lebensumständen begründet – wie dem unsicheren Aufenthaltsstatus, der lagerähnlichen Unterbringung und dem Arbeitsverbot. Außerdem wird die Diagnose häufig zum politischen Tatbestand: Der Status der Duldung speist sich aus dem Vorhandensein einer psychischen Störung. Sind die Flüchtlinge symptomfrei, gibt man sie zur Abschiebung frei. Sicher können sie sich also nur fühlen, solange sie als krank gelten – ein Paradoxon, das die Arbeit von Abdallah-Steinkopf mitunter fast unmöglich macht.

Zugleich ist der Traumabegriff auf dem Vormarsch in der westlichen Vorstellungswelt: Wie der britische Soziologe Frank Furedi feststellte, nahm der Gebrauch von Wörtern wie „Trauma“ oder „Stress“ in britischen Zeitungen im vergangenen Jahrzehnt um das Zehn- bis Zwanzigfache zu. Eine Beobachtung, die sich mit der Einschätzung Derek Summerfields deckt: Nach Ansicht des Psychiaters sind Menschen heutzutage fast zwanghaft mit ihrer Verletzlichkeit beschäftigt, anstatt auch einmal auf ihre Selbstheilungskräfte zu vertrauen.

Manchmal kann diese vorauseilende Sorge direkten Schaden anrichten: So mehrte sich in den vergangenen Jahren die Kritik an der Debriefing-Methode, ursprünglich als Soforthilfe für Polizisten oder Feuerwehrleute entwickelt. Beim Debriefing ruft der Psychologe die Menschen nach dem Katastropheneinsatz zusammen. In der Hoffnung, dass sie sich das Erlebte von der Seele reden, vergegenwärtigen sie sich das Ereignis dann gemeinsam. Tatsächlich ist Debriefing meist, wie der britische Psychiater Richard Mayou herausfand, ineffektiv. Mitunter redet man die Belastung sogar erst herbei. Durch die intensive Beschäftigung gewinnt das Geschehen zusätzliche Bedeutung.

Eine Beobachtung im walisischen Aberfan deutete in dieselbe Richtung: Einige Jahre nachdem sich das Unglück ereignet hatte, suchte ein Psychologe die Schüler noch einmal auf. Psychische Auffälligkeiten konnte er bei keinem feststellen.

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