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Strahlenquelle. Über Jahrzehnte floss radioaktiv verseuchtes Wasser aus dem Atomkraftwerk Sellafield in die Irische See.

© AFP

Radioaktivität in Organismen: Brennstäbe und Fischstäbchen

Die Angst mancher Europäer vor radioaktiv verseuchtem Fisch aus Japan ist übertrieben. Die Ozeane und ihre Organismen leiden eher unter der Überfischung als unter radioaktiven Substanzen. Wie sich diese verteilen, lässt sich an einem historischen Beispiel nachvollziehen.

Fischmahlzeiten sind gut für die Gesundheit, erklären Ernährungsforscher. Aber gilt das auch, nachdem die Atommeiler in Fukushima Dai-Ichi offenbar beträchtliche Mengen radioaktiver Substanzen ins Meer abgeladen haben? Wie verteilen sich Substanzen wie Cäsium-137 oder Plutonium überhaupt im Meer? Wie viel Radioaktivität landet in Fischen oder sogar auf dem Teller? Genaue Antworten auf diese Fragen hat derzeit niemand. Ein Blick auf die Geschichte der Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield aber gibt wichtige Hinweise.

In diesem früher „Windscale“ genannten Komplex an der Nordwestküste Englands entstanden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Kernreaktoren für britische Atomwaffen, später zwei Wiederaufbereitungsanlagen. Radioaktive Abfälle wurden ähnlich wie in den USA und der Sowjetunion oft direkt ins Meer geleitet. Nach heftigen Protesten von Anwohnern und Umweltschutzorganisationen wurden diese Einleitungen in den letzten Jahrzehnten stark reduziert.

In dieser Zeit konnten Strahlenbiologen untersuchen, wie sich radioaktive Substanzen im Meer ausbreiten. „Für verschiedene Isotope ist das ganz unterschiedlich“, erklärt Günter Kanisch vom Hamburger Institut für Fischereiökologie im Johann-Heinrich-von-Thünen-Institut. So entstehen bei der Kernspaltung radioaktive Substanzen wie Plutonium oder Americium, die sich gut an Schwebstoffe im Wasser heften und rasch auf den Boden sinken. Sie finden sich daher vor allem im Meeresboden in der Umgebung von Sellafield.

Cäsium-137 und Strontium-90 dagegen, die ebenfalls in Kernreaktoren entstehen, lösen sich gut in Wasser. Diese Stoffe verbreiten sich mit den Strömungen im Laufe der Jahre relativ weit, verdünnen sich dabei aber auch stark. So wurden sie vom Golfstrom entlang der schottischen Atlantikküste nach Norden getragen. Von dort erreichten die Strömungen die norwegische Küste, ein Teil der radioaktiven Fracht aber bog auch in die Nordsee ein und floss so in Richtung Deutsche Bucht.

Einen Teil dieser Substanzen nehmen auch Meeresorganismen auf. Bei Untersuchungen des Instituts für Fischereiökologie konnten 1982 in einem Kilogramm Kabeljau aus der Nordsee 16 zerfallende Atomkerne Cäsium-137 pro Sekunde gemessen werden. Mitte der 1990er Jahre war es nur noch ein Zerfall pro Sekunde.

Da solche Zahlen wenig aussagen, hat Kanisch das Ganze für den Alltag umgerechnet. Isst ein Mensch jedes Jahr satte acht Kilogramm Kabeljau und zerfallen in einem Kilogramm zehn Cäsium-137-Atomkerne, bekommt der Esser in diesem Jahr eine Strahlendosis von einem Tausendstel Millisievert aus dem Fisch ab. In der gleichen Zeit aber beträgt die natürliche Strahlendosis mehr als zwei Millisievert. Von Röntgenaufnahmen und anderen medizinischen Verfahren kommen im Jahresdurchschnitt noch einmal rund zwei Millisievert dazu. Da fiel in den 1980er Jahren das zusätzliche tausendstel Millisievert eines Kabeljau-Gourmets nicht allzu sehr ins Gewicht.

Ganz anders sah die Situation bei den Fischern in der näheren Umgebung von Sellafield aus. Bei ihnen kommt viel mehr Fisch auf den Tisch und die Meerestiere enthalten viel mehr Radioaktivität. In den 80er Jahren konnte ein Fischer dort durchaus auf ein jährliches Millisievert über seine Fisch-Speisekarte kommen und hatte daher eher Grund zur Unruhe.

Abhängig von der weiteren Entwicklung in den Fukushima-Reaktoren werden sich im Meer vor Japan wohl ähnliche Verhältnisse einstellen: In der näheren Umgebung der Reaktoren lassen sich die Auswirkungen der eingeleiteten Radioaktivität auf das Ökosystem vor der Küste bisher noch gar nicht abschätzen. Fisch aus dieser Region wird wegen radioaktiver Belastung wohl einige Zeit von der Speisekarte verschwinden. Das Ochotskische Meer vor der Küste Sibiriens aber ist weit weg. Für den dort gefangenen Alaska-Seelachs und die daraus hergestellten Fischstäbchen besteht daher kaum Grund zur Sorge. Dort gibt es ein ganz anderes Problem: Alaska-Seelachs ist überfischt und wird langsam knapp. Das Gleiche ist übrigens auch dem Kabeljau in der Nordsee passiert. „Unsere Radioaktivitätsmessungen im Nordsee-Kabeljau mussten wir mangels Proben abbrechen“, berichtet Kanisch.

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