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Der Angeklagte Marinus van der Lubbe während des Reichstagsbrandprozesses vor dem Reichsgericht Leipzig.

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Reichstagsbrand: Das Märchen vom Einzeltäter

Die These, dass Marinus van der Lubbe den Reichstag angezündet hat, ist eine Geschichtsfälschung. Trotzdem hält sie sich hartnäckig. Ein Essay.

Der Historiker Sebastian Haffner begründete, warum Geschichte von jeder Generation neu geschrieben werden muss, mit den Worten: „Nicht, weil die neue Generation nun die ganze Wahrheit wüsste, die der alten noch verborgen war, sondern weil sich jeder Generation, auf der rollenden Plattform, auf der wir leben, ein neuer Aspekt der Wahrheit über die Vergangenheit erschließt.“

In unserer Zeit – besonders in diesen Tagen – schmerzt es, dass es über den entscheidenden Schritt von der Übertragung der politischen Macht an die Nazis hin zur uneingeschränkten Diktatur noch immer keine Klarheit gibt. Dieser Schritt geschah am 27. Februar 1933, vor 87 Jahren, als in Berlin der Reichstag brannte und der legale staatliche Terror begann.

Seit der „Spiegel“ vor etwas mehr als 60 Jahren die These vom allein handelnden Brandstifter Marinus van der Lubbe in die Welt setzte, gelten die Nazis, was den Reichstagsbrand angeht, als entlastet. Ihnen sei in dieser Nacht, einer „Sternstunde der Menschheit“ (so der „Spiegel“-Autor Fritz Tobias in seinem späteren Buch über den Reichstagsbrand), die Macht aufgrund eines „Irrtums“ in den Schoß gefallen.

Diktatur aus Versehen? Unwissenschaftlich!

Infolge Hitlers „Verkennung des Brandes als kommunistisches Aufstandsfanal“ habe man die Angreifer eben brutal und erfolgreich unschädlich gemacht. So sei „aus dem zivilen Reichskanzler Hitler“ im „flammenlodernden Symbol des besiegten Weimarer Staates der machtberauschte, sendungsbesessene Diktator Adolf Hitler“ geworden.

Eine Diktatur aus Versehen? Kann man sich etwas Unwissenschaftlicheres überhaupt vorstellen, zumal schon die Annahme, ein Einzelner habe den Reichstag innerhalb weniger Minuten und ohne Hilfsmittel anzünden können, selbst einfachsten Überlegungen nicht standhält? Nie hat Tobias erklärt, wie van der Lubbe das alleine geschafft haben soll. Trotzdem wurde die These vom Alleintäter zum Allgemeingut, zumindest unter Historikern. Und ist es bis heute geblieben. Die wenigen Historiker, die sich dem zu widersetzen versuchten, haben meist aufgegeben, sind in ihre angestammten Berufe zurückgekehrt, alt geworden oder inzwischen verstorben.

Was alle diese gegenüber der Tobias-These oppositionellen Historiker bei sonstigen Differenzen verbindet, ist die Erfahrung einer weitgehend fehlenden Resonanz ihrer Ansätze. Wenn sie Glück hatten, wurden sie übel verleumdet, wie etwa die Autoren Alexander Bahar und Winfried Kugel – durch den Historiker Henning Köhler in der „FAZ“. Aber was können „außenseiterische“ Historiker, die die haarsträubenden Fehler der Mainstream-Linie nachzuweisen meinen, eigentlich tun, um sich Gehör zu verschaffen?

Kritiker werden nicht ernst genommen

Die Annahme, dass der Fehler dort korrigiert würde, wo er seinen Ausgang nahm, wäre naiv. Über Jahrzehnte hat sich der „Spiegel“ zwar gelegentlich – zuletzt im November 2019 – mit seinen Kritikern auseinandergesetzt, kam aber stets zu dem Ergebnis, immer schon recht gehabt zu haben. Und schon 1992 lehnte das renommierte Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in einem Schreiben an einen der hartnäckigsten Reichstagsbrandforscher, den Soziologen Hersch Fischler, ab, als „eine Art zeitgeschichtliches Notariat“ zu fungieren, „in dem Forschungsergebnisse beurkundet werden könnten“.

Adolf Hitler spricht am 23.03.1933 vor dem Reichstag.
Adolf Hitler spricht am 23.03.1933 vor dem Reichstag nach der Machtübernahme.

© picture alliance / dpa

Doch genau das hatte das IfZ 1964 in Sachen Reichstagsbrand getan, denn der „Spiegel“-Autor und Verfassungsschutz-Mitarbeiter Fritz Tobias erhielt vom IfZ höhere Weihen für seine haarsträubende Theorie. Bis heute aber haben „Spiegel“-Leser nichts darüber lesen können, unter welchen Umständen es zu diesen Weihen gekommen ist.

Fritz Tobias selbst, der sich als Mitarbeiter des niedersächsischen Verfassungsschutzes dienstlich leicht Zugang zu den Unterlagen des Berlin Document Centers verschaffen konnte, erpresste den damaligen Direktor des IfZ, Helmut Krausnick, mit seinem Wissen um dessen vormalige Mitgliedschaft in der NSDAP. So erreichte er, dass dem Tobias-kritischen Historiker Hans Schneider der Auftrag einer Begutachtung der Tobias-Erkenntnisse unter Vorwänden entzogen wurde. Stattdessen erhielt der damalige Mitarbeiter des IfZ, Hans Mommsen, den Auftrag – und billigte die These von Tobias.

Der "Spiegel" sitzt einer Fälschung auf

So wurde aus dem erst spät aufgedeckten Wissenschaftsskandal der 60er Jahre – selbst das IfZ hatte sich 2001 nach Bekanntwerden der Vorgänge im eigenen Haus davon mit den Worten „wissenschaftlich völlig indiskutabel“ distanziert – mit den Jahren auch ein Medienskandal.

Ein einziges Medium, der „Spiegel“, sitzt also einer Fälschung auf, setzt diese anschließend durch und beweihräuchert sich damit auch noch selbst. So erklärte Rudolf Augstein 1959: „Über den Reichstagsbrand wird nicht mehr gestritten werden.“ Alle paar Jahre führte der „Spiegel“ seine Kritiker vor, ohne sie je zu Wort kommen zu lassen. So verebben alle Bemühungen, die Einzeltäter-These zu widerlegen.

Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass die Widersacher oft auch unglücklich agierten und etwa mit Dokumenten arbeiteten, die sie im Original nicht vorlegen konnten, wodurch sie sich Fälschungsvorwürfe einhandelten.

Vergiftete Debatte

Die Debatte war von Beginn an vergiftet, und das wurde mit den Jahren auch nicht besser. „Es ist unvorstellbar, welche plumpen und im Grunde leicht durchschaubaren Lügen gläubig hingenommen wurden, nur weil sie in eigene Vorstellungen passten.“ Mit diesem Satz, der leicht auf den Autor zurückfallen könnte, gab Fritz Tobias schon 1962 den Ton vor.

 Fackelzug von SA und Stahlhelm zur Reichskanzlei, vor dem Brandenburger Tor im Sommer 1933.
Machtübernahme. Fackelzug von SA und Stahlhelm zur Reichskanzlei, vor dem Brandenburger Tor im Sommer 1933.

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Worum aber geht es im Kern bei diesem Streit? Haben die Nazis den Reichstag angezündet, um einen Vorwand für den legalen staatlichen Terror zu haben? Oder hat der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe, der unbestreitbar im brennenden Reichstag verhaftet worden war, das Gebäude auf eigene Faust und innerhalb weniger Minuten in ein flammendes Inferno verwandelt? Letzteres ist nicht möglich – dazu bräuchte es Dutzende Kilo Brandbeschleuniger, deren Rückstände tatsächlich später im Reichstag nachgewiesen werden konnten. Diese Hilfsmittel hatte van der Lubbe aber nicht.

Alleintäterschaft ist unmöglich

Wenn also eine Alleintäterschaft van der Lubbes ausscheidet, stellt sich die Frage, wie die Nazis den Holländer in ihre Machenschaften verwickelten. Dies ist der springende Punkt, und hier kommt eine eidesstattliche Versicherung des früheren SA-Mannes Hans-Martin Lennings ins Spiel. Der sagte 1955 aus, er habe am Abend des Brandes den Auftrag gehabt, einen jungen Mann von einem SA-Sturmlokal in der Lützowstraße zum Reichstag zu fahren. Dieser habe benommen und sogar gehbehindert gewirkt. Als man am Reichstag eingetroffen sei, habe es im Gebäude bereits nach Feuer gerochen, Rauchschwaden seien durch die Flure gezogen. Demnach könne Marinus van der Lubbe nicht der Brandstifter gewesen sein.

Wichtig an dieser Aussage, die letztes Jahr von Hersch Fischler in dem umfangreichen Nachlass von Fritz Tobias gefunden wurde, ist nicht nur, dass sie erstmals ein Geständnis eines Mittäters beinhaltet, sondern dass sie schlagartig klarmacht, wie die Nazis den Holländer in ihre Pläne einbauten: Sie schoben ihn einfach im entscheidenden Moment, bevor das Feuer losbrach, auf die Bühne.

[Der Autor ist Journalist und Buchautor und hat unter anderem eine Biografie über Sebastian Haffner und Werke zum Mord an Benno Ohnesorg veröffentlicht.]

Die Nazis benutzen van der Lubbe

Möglichkeiten, ihn in ihrem Sturmlokal unter Drogen zu setzen, wird es gegeben haben – ebenso wie während der Gerichtsverhandlung, als man van der Lubbe namentlich gekennzeichnete Brotscheiben in die Zelle brachte. Die Fotos des unzurechnungsfähigen van der Lubbe, der sich während der Gerichtsverhandlung kaum auf den Beinen halten konnte, sind weltberühmt.

Adolf Hitler und Paul von Hindenburg.
Tag von Potsdam. Der neue Reichskanzler Adolf Hitler und Reichspräsident Paul von Hindenburg während der Eröffnungssitzung des neuen Parlaments.

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Aber auch das ficht die Alleintäter-These nicht an. Nach Recherchen in Archiven erklärte der „Spiegel“, dass Lennings als Kronzeuge schlecht zu gebrauchen sei, denn 1936 und 1937 hätten ihm gleich zwei Mediziner bescheinigt, ein Psychopath zu sein. Lennings, so das NS-Gutachten, „sei ein unsteter, triebhaft unruhiger, schwindlerischer und lügnerischer Mensch“. Man könne seinen Angaben nicht trauen, zitiert der „Spiegel“ einen der Mediziner aus der NS-Zeit und wähnt sich so aus dem Schneider.

Mit keinem Wort geht der „Spiegel“ auf die sensationelle Darstellung ein, wie es die Nazis vollbracht haben könnten, van der Lubbe als willenloses Werkzeug am Abend der Tat in den Reichstag zu verbringen.

Das Gutachten gehört auf den Prüfstand

Bildlich lassen sich die Ereignisse der 60er Jahre, als das IfZ die Richtigkeit der Tobias-Thesen bestätigte, wie folgt beschreiben: Fritz Tobias brachte seine gewagte Konstruktion zum IfZ wie ein durchgerostetes Auto zum Tüv. Skeptische Prüfer ließ er nicht an seinen fahrbaren Untersatz; ein ihm genehmer Prüfer drückte schließlich die begehrte Prüfplakette auf das Nummernschild.

Aber wäre es nicht an der Zeit, das Prüfgutachten von 1964 zurückzuziehen – und diesen Oldtimer endlich aus dem Verkehr zu ziehen? Und sollten wir nicht endlich mehr darüber erfahren, wie genau die Nazis gegen die Mehrheit des deutschen Volkes putschten, um es sich anschließend gefügig zu machen und dann die halbe Welt in Schutt und Asche zu legen?

Uwe Soukup

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