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Größe. Der Türke Sultan Kösen gilt mit 2,46 Metern als der höchstgewachsene Mensch der Welt.

© picture-alliance/ dpa

Riesen: Die Gene des Giganten

Ein mehr als 200 Jahre altes Skelett aus einem Londoner Museum hilft, die Ursachen von Riesenwuchs aufzuklären

Das Aufsehen, das dieser Mann durch seine Länge erregt, überdauert nun schon mehrere Jahrhunderte. Zu seinen Lebzeiten war er mit seiner Größe von 2,31 Metern eine Londoner Jahrmarktsensation. 1783 starb der gebürtige Nordire mit 22 Jahren. Sein Skelett ist seit langem im Hunterian Museum in London zu sehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwirkte der Neurochirurg Harvey Cushing die Erlaubnis, den Schädel des Riesen zu öffnen. Er fand, dass die Vertiefung, die der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) Platz bietet, auffällig vergrößert war: ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Verstorbene einen Tumor hatte, der Riesenwuchs verursachen kann.

Jetzt ist der „Irish Giant“ erneut zur wissenschaftlichen Sensation geworden. Forscher um Márta Korbonits von der London School of Medicine haben bei ihm eine Genveränderung gefunden, die zuvor bei vier nordirischen Familien aufgefallen war. Sie gehörten zu 140 untersuchten Familien, in denen ebenfalls Tumoren der Hirnanhangdrüse aufgetreten waren – und Riesenwuchs, den Ärzte als Gigantismus bezeichnen. Die Resultate sind im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht (Band 364, Seite 43).

Deutsche Forscher um Joachim Burger von der Arbeitsgruppe Paläogenetik der Uni Mainz stellten dafür ihr Knowhow zur Verfügung, damit aus zwei Backenzähnen des großgewachsenen Iren genügend Erbsubstanz gewonnen werden konnte. Die Forscher vermuten nun aufgrund der DNS-Analyse, dass die vier irischen Familien von heute und ihr Landsmann aus dem 18. Jahrhundert einen gemeinsamen Vorfahren haben, der ihren Berechnungen zufolge vor 57 bis 66 Generationen gelebt haben müsste.

Die genetischen Veränderungen führen nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung, denn nur 14 der 51 Träger des veränderten Gens waren erkrankt. Umgekehrt haben nicht alle Gigantismus-Betroffenen die Mutation des Gens AIP (für: Aryl hydrocarbon-interacting protein). Sie bildet nur in schätzungsweise ein bis sieben von 100 Fällen den Hintergrund für die ohnehin seltene Erkrankung.

Sie entsteht durch einen, meist gutartigen Tumor der Hirnanhangdrüse, der vermehrt und unkontrolliert Wachstumshormone ausschüttet. Bildet er sich schon in der Kindheit oder Jugend, wenn das Längenwachstum noch nicht abgeschlossen ist, schießen die Betroffenen schier endlos weiter in die Höhe. Auch die Wachstumsfugen der Knochen des „Irish Giant“ waren zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht geschlossen. Weil der Tumor Platz beansprucht, kann die Hypophyse oft ihre Aufgaben in der Hormonproduktion nicht erfüllen. Resultat: Die Betroffenen kommen deutlich später oder überhaupt nicht in die Pubertät.

Weit häufiger entwickelt sich eine solche Wucherung erst in späteren Lebensjahren. Dann kann das Wachstumshormon zwar aus durchschnittlich großen Erwachsenen keine Riesen mehr machen, bewirkt aber oft eine Vergrößerung von Händen, Füßen, Unterkiefer und Zunge und eine Vergröberung der Gesichtszüge, was im Fachbegriff „Akromegalie“ (griechisch für: vergrößerte Körperendglieder) zum Ausdruck kommt.

Die Endokrinologin Ursula Plöckinger vom Stoffwechsel-Centrum der Charité am Campus Virchow, seit Jahren Spezialistin für Akromegalie, rechnet vor, dass in jedem Jahr in Deutschland bis zu 250 Menschen neu erkranken, bis zu 5000 Menschen leben mit dem Leiden. Unter den rund 200 Patienten, die Plöckinger im Lauf der Jahre betreut hat, sind nur wenige mit Riesenwuchs. Bei ihnen und bei allen Akromegalie-Patienten, die vor dem 30. Lebensjahr erkranken, sei am ehesten an einen genetischen Hintergrund zu denken, sagt Plöckinger. Es sei deshalb denkbar, dass in absehbarer Zukunft alle Mitglieder betroffener Familien auf das veränderte AIP-Gen untersucht werden könnten.

Derzeit kommen die Ärzte der Erkrankung durch einen Zuckerbelastungstest auf die Schliche. Gesunde reagieren auf große Mengen Glukose, indem sie die Ausschüttung von Wachstumshormonen drosseln. Passiert das nicht, liegt der Verdacht auf einen Tumor der Hirnanhangdrüse nahe. „Solange er kleiner als einen Zentimeter ist, kann er operiert werden“, sagt die Ärztin. „Die Heilungschancen liegen bei 90 Prozent.“ Eine weitere Behandlungsmöglichkeit bieten verschiedene Medikamente, mit denen die Ausschüttung des Wachstumshormons, das Wachstum des Tumors oder auch die Wirkung des Hormons und damit das Wachstum der Patienten gestoppt werden kann. Eine Strahlentherapie sei heute nur noch in seltenen Fällen nötig, sagt Plöckinger.

Wichtig sei, früh zu reagieren, fügt die Spezialistin hinzu. „Bei einem Kind, das früh sehr viel größer ist als seine Schulkameraden, sollte man auf jeden Fall an diese Krankheit denken.“ Denn neben psychischen Belastungen haben Betroffene oft auch mit Stoffwechselproblemen zu kämpfen sowie mit schweren Schäden an den Füßen und an der Wirbelsäule, die für eine solche Größe nicht ausgelegt sind. Adelheid Müller-Lissner

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