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In Dresden werden 200.000 Mundschutzmasken an Bürger verteilt.

© dpa/Sebastian Kahnert

Risikoanalyst über Corona: „Wir haben großes Glück, dass es so eine langsame Katastrophe ist”

Der „Risikoingenieur“ James Daniell erklärt im Interview, warum Deutschland schlecht auf die Corona-Pandemie vorbereitet war – und was das Virus kosten könnte.

Von Hendrik Lehmann

Herr Daniell, wie viel wird uns das Coronavirus kosten?
Das ist extrem schwer zu berechnen.

Warum?
Es gibt 81 verschiedene Arten von Naturkatastrophen. Erdbeben, Orkane, Vulkanausbrüche, Dürren. Und dann kommen Seuchen wie Ebola oder jetzt das Coronavirus dazu. Der maximale Schaden, den ein einzelnes Erdbeben auslösen könnte, läge derzeit bei 1,5 bis 2 Billionen US-Dollar, wenn es sich beispielsweise in Tokio ereignet, was nicht ganz unwahrscheinlich ist. Corona wird weit mehr Schaden verursachen.

Aber Sie können nicht abschätzen, wie groß er sein wird?
Der Hauptunterschied bei Corona ist: Bei anderen Katastrophen sind mindestens 60 Prozent der Schäden an Objekten. Bei Corona aber gibt es kaum Schäden am Kapital. Die Hotels stehen ja alle noch – es ist nur keiner mehr drin. Die Flugzeuge sind alle heile – es fliegt nur keiner mehr damit. Wie hoch die Todesrate liegen wird, kann derzeit auch noch niemand verantwortungsvoll abschätzen. Die Folgen hängen völlig davon ab, wie gut die politischen Maßnahmen wirken. Aber in einigen Bereichen ist trotzdem schon sichtbar, wie massiv die Schäden sein werden.

Sie bezeichnen sich als Risikoingenieur. Klingt so, als konstruierten Sie Gefahren. Tun Sie das?
Am häufigsten führe ich Schnellschadenschätzungen direkt nach großen Katastrophen durch. Da fasst man möglichst schnell möglichst viele der Daten zusammen, die zu einer Katastrophe aufzutreiben sind: Verletztenzahlen genauso wie Schäden an Objekten. Dann kombiniert man sie mit Bevölkerungsdaten und Modellen. So versucht man, möglichst schnell die Kosten und ökonomischen Folgen abzuschätzen. Eigentlich verbringe ich die meiste Zeit mit Datenanalysen.

Risikoanalyst James Daniell hofft auf die Wirkung der Maskenpflicht.
Risikoanalyst James Daniell hofft auf die Wirkung der Maskenpflicht.

© privat

Für wen sind solche Katastrophenanalysen wichtig?
Banken, Rückversicherer und Versicherungsfirmen brauchen das, um einzuschätzen, in welcher Höhe mögliche Schadenssummen auf sie zukommen. Das Tōhoku-Erdbeben 2011 vor Japan verursachte beispielsweise circa 400 Milliarden Euro an Schäden. Wir beraten aber auch Behörden und Regierungen, wie man Katastrophen besser managt. Für die Weltbank haben wir beispielsweise eine Datenbank aller Schulen weltweit aufgebaut, mit dem Ziel, abzuschätzen, wie viele Schulen pro Jahr durch Erdbeben zerstört werden. Nur so können Regierungen oder Organisationen genug Gelder einplanen, um die Schulen wieder aufzubauen, die in Zukunft durch Beben zerstört werden.

Das Coronavirus kommt aber nicht aus dem Erdinnern. Es ist eine Katastrophe zwischen den Menschen. Kann man die Schäden trotzdem in manchen Bereichen schon beziffern?
Im Tourismus. Das gesamte globale BIP lag zuletzt bei ungefähr 80 Billionen US-Dollar. 2,5 Billionen an Einnahmen gab es allein durch Tourismus. Nimmt man indirekte Tourismuseinnahmen dazu, Hotels, Restaurants, Airlines, kommt man auf mindestens sieben Billionen US-Dollar, die weltweit umgesetzt werden. Davon wird mindestens ein Siebtel wegfallen, also eine Billion – wenn alles sehr bald besser wird. Danach ist aber die Frage: Wer wird jetzt ein Ticket buchen für eine Reise in einigen Monaten? Welche Rolle spielt die Angst? Vom Tourismus aus werden sich die Verluste in andere Wirtschaftszweige ausbreiten. Es wird nicht gut ausgehen.

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Wie gut war Deutschland auf Corona vorbereitet?
Anscheinend nicht besonders gut. Es gibt hier offenbar kein modernes „Disaster Information Management System“, wie es andere Länder haben. Dadurch sind alle Daten nur sehr langsam verfügbar. Deswegen sammeln wir die Daten für Deutschland selbst, mithilfe von über 40 Freiwilligen und inzwischen ja auch mit der Tagesspiegel-Redaktion zusammen.

[Die aktuellen Zahlen zur Coronavirus-Pandemie in Deutschland finden Sie hier.]

Ja, auch wir hatten zu Beginn Probleme mit den Testzahlen in Deutschland. Immer wieder beschwerten sich Leser, dass die Zahlen in ihrem Landkreis bereits viel höher seien als die gemeldeten.
Für Deutschland habe ich schnell gemerkt, dass da etwas extrem schiefläuft. Wie bei jeder Katastrophe bin ich von unten nach oben gegangen, von den Meldungen der Gesundheitsämter in den Landkreisen, über die Bundesländer bis zu den nationalen Meldungen. Da fiel schnell auf, dass die Summe der lokal gemeldeten Zahlen teils tausende Fälle über den Meldungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) lag. Also haben wir angefangen, das Nacht um Nacht zusammenzutragen. Erst mit einem Kollegen, dann mit weiteren Freiwilligen. Jede Meldung wird dabei von mindestens drei Personen verifiziert.

Ob die Zahl für Deutschland nun einen Tag früher oder später steigt, sei kein großer Unterschied, entgegnen einige.
Nein! Es ist sehr wichtig, dass so schnell und so lokal wie möglich zu wissen. Denn der Trend in jedem einzelnen Kreis ändert das Verhalten der Leute. Wenn man sieht, dass im Landkreis nebenan die Fallzahl plötzlich in die Höhe schnellt, kann man vermeiden, dorthin zu fahren. Es ist wichtig, dass jeder die Daten kennt. Nur dann kann jeder seine Entscheidungen treffen. Wäre das früher verfügbar gewesen, hätte man noch besser reagieren können.

Inwiefern?
Man hätte vielleicht die Grenzverkehre sinnvoller einschränken können, statt spät und pauschal abzusperren. Zum Beispiel Richtung Basel, wo die Zahlen besonders stark nach oben gingen.

Wie müsste ein gutes System für Katastrophen funktionieren?
Man muss ein System haben, das sofort von allen Behörden genutzt werden kann, egal ob Polizei, Feuerwehr oder Entscheidungsträgern – von der kleinsten lokalen Ebene bis zur zentralen Planungsebene. Weil sowas im Katastrophenfall meist schlecht automatisch funktioniert, braucht man außerdem Menschen.

Wie ist es mit den weltweiten Zahlen?
Viele internationale Daten sind extrem intransparent und oft unprofessionell. Wenn man sich beispielsweise die Johns-Hopkins-Daten genauer anschaut, wird deutlich, dass die ihre Daten über Webseiten beziehen, die diese wiederum von anderen Webseiten beziehen. Am unteren Ende sitzen oft genau solche Leute wie wir, die das aus lokalen Quellen mühsam freiwillig zusammentragen. Weil die Quellen nicht sauber angegeben werden, ist aber manchmal gar nicht klar, wer diese Zuträger sind. Einer ist beispielsweise Carlos Robles, ein extrem talentierter 23-Jähriger in Mexiko, der das für die Webseite BNO News macht. Das weiß kaum jemand. Trotzdem beziehen sich Dutzende Medien weltweit über Umwege auf ihn.

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Welche Länder haben gute Katastrophensysteme?
In den Philippinen gibt es so ein System von jedem Dorf bis hoch auf die nationale Ebene. In China ebenfalls. Sie bezahlen Menschen in jedem Dorf dafür, dass sie die neuesten Daten von Verletzten oder Schäden eintragen. In solche Infrastrukturen muss man investieren. Wir haben großes Glück, dass es so eine langsame Katastrophe ist.

Wieso ist COVID-19 eine langsame Katastrophe?
Die Infektionszeit ist im Vergleich zu anderen Seuchen recht lang. Die Todesrate ist niedrig. Man muss sich vorstellen, dass bei Ebola die Todesrate bei 30 bis 90 Prozent liegt, oder die Verbreitungsgeschwindigkeit bei Masern ein Vielfaches höher ist als bei SARS-CoV-2. Hätte Corona solche Eigenschaften, würden wenige Tage Verzögerung Tausende Tote mehr bedeuten. Bei Vulkanausbrüchen oder Erdbeben geht es noch viel schneller. Stellen Sie sich mal vor, jetzt kommt eine weitere „normale“ Katastrophe irgendwo in der Welt! Das ist recht wahrscheinlich. Aber wegen Corona kämen nicht mal Helfer ins betroffene Gebiet.

[Wie sich das Coronavirus von der chinesischen Stadt Wuhan in China verbreitet hat und welche Faktoren die Verbreitung begünstigt haben, können Sie auf Multimedia-Karten erkunden.]

Gibt es in Deutschland so wenig Infrastruktur, weil es hier kaum Katastrophen gibt?
Die Menschen haben generell eine sehr schlechte Vorstellung von Risiken. Was heißt es, wenn einer von Tausend in Baden-Württemberg mit Corona infiziert ist? Klingt wenig. Aber wie viele Leute pendeln? Wie viele Menschen trifft man pro Tag? Wie hoch ist die Sterberate? Exposition, Vulnerabilität und Gefährdung? Das zusammen ist Risiko. Ich wünsche mir, dass diese Krise unser Bewusstsein für solche Zusammenhänge ändert.

Risikoforscher James Daniell
James Daniell berär Regierungen, Versicherungen und internationale Organisation beim Umgang mit Naturkatastrophen.

© privat

Sie meinen, dass der Sinn der Menschen für Wahrscheinlichkeiten unterentwickelt ist?
Ja. Der Fakt, dass große Katastrophen nur sehr selten passieren, heißt eben auch, dass sie irgendwann passieren werden. Es ist beispielsweise überhaupt nicht ausgeschlossen, dass Deutschland ein schweres Erdbeben erlebt. Und Vulkanausbrüche könnten auch hier einiges lahmlegen.

Wo soll denn in Deutschland ein Vulkan ausbrechen?
Im Durchschnitt kommt es weltweit alle 200 Jahre zu einem riesigen Vulkanausbruch. Der Vulkan Tambora auf Indonesien ist das letzte Mal 1815 ausgebrochen. Der Ausbruch damals hat zwar nur bis zu 100.000 Menschen in direkter Umgebung getötet. Aber die Aschewolken zogen sehr weit. Sie führten in vielen Teilen der Welt zum „Jahr ohne Sommer“ 1816. Es gab Millionen von Hungertoten bei sehr viel weniger Menschen, die überhaupt auf der Erde gelebt haben. Das ist Risiko. Aber ich denke, mit dem Coronavirus fangen die Menschen langsam an, das zu verstehen.

James Daniell forscht und lehrt zu Katastrophenmanagement und Risikoanalyse am Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology am Karlsruhe Institute of Technology (KIT). Er ist Mitgründer und Geschäftsführer der Risklayer GmbH, die Firmen, Regierungen und transnationale Institutionen zu Naturkatastrophen berät, unter anderem die Weltbank. Er hält Abschlüsse in Bauingenieurwesen, Geologie, Erdbebeningenieurwesen und Seismologie. Der gebürtige Australier lebt mit seiner Familie bei Karlsruhe.

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