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Risikoforscher Renn: "Die Bundesregierung handelt aktionistisch"

Trotz des Atomunfalls in Japan hält Risikoforscher Ortwin Renn die Eile der Bundesregierung beim Abschalten der AKW für übertrieben. Mit dem Tagesspiegel spricht er über das Risiko der deutschen Reaktoren.

Sieben alte Kernkraftwerke in Deutschland sollen umgehend heruntergefahren, die ganze Technik überprüft werden. Ist es sinnvoll, in dieser zugespitzten Situation eine politische Entscheidung von so großer Tragweite zu fällen?

Ich bin skeptisch, weil sich die Situation der Kernkraftwerke vor und nach dem Unfall in Japan objektiv nicht unterscheidet. Die Eile, die jetzt an den Tag gelegt wird, ist politisch verständlich, aber aus risikoanalytischer Sicht übertrieben. Das Problem ist: Immer, wenn man etwas tut, um ein Risiko zu verringern, erhöht man möglicherweise ein anderes.

Was meinen Sie damit?

Wir müssen den Risikobegriff weiter fassen. Neben den Risiken für Umwelt und Gesundheit gibt es auch wirtschaftliche Risiken, Fragen der Versorgungssicherheit. All das muss berücksichtigt werden, etwa bei der Frage: Was passiert, wenn sieben Kernkraftwerke vom Netz gehen? Importiere ich jetzt etwa mehr Strom von außen? Am Anfang ist das sicher notwendig. Es gibt ja bereits Meldungen, dass man in Tschechien die Kapazitäten im Akw Temelin erhöhen will, um mehr Strom nach Deutschland zu exportieren. Das ist sicher nicht das gewünschte Resultat dieser Entscheidung. Von daher hätte ich mir von der Regierung mehr Besonnenheit gewünscht. Mir kommt das alles sehr aktionistisch vor.

Im letzten Sommer haben Sie uns erzählt, dass wir hier noch einige Jahre Kernenergie benötigen und eine Laufzeitverlängerung sinnvoll sei. Hat sich angesichts der Bilder aus Japan Ihre Meinung geändert?

Nein. Die Kerntechnik hat Risiken, die sind wir bewusst eingegangen. Durch die Ereignisse in Japan sind sie aber nicht größer geworden . Wenn wir jetzt schneller aus der Technik aussteigen, müssen wir uns fragen: Können wir den Anteil der erneuerbaren Energien zügiger steigern, als wir es noch vor zwei Wochen für machbar hielten? Wenn das der Fall ist, dann ist es sinnvoll, den Ausstieg zu beschleunigen, weil wir damit auch insgesamt das Risiko minimieren. Andernfalls werden wir dieselben Probleme haben, die ich schon vor einem halben Jahr aufgezeigt habe: Wenn wir die Brücke zu kurz machen, dann landen wir im Wasser.

Im Fall von Japan waren es nicht die einzelnen Ereignisse, die zu den gravierenden Problemen geführt haben, sondern das Zusammenspiel. Gibt es auch andere Kombinationen, die wir bislang überhaupt nicht bedacht haben?

Natürlich. Darüber sind wir uns aber schon lange im Klaren. Das ist bei der Risikoanalyse von Kernkraftwerken auch berücksichtigt worden, wenn zum Beispiel ein Erdbeben im Rheingraben zusammenfällt mit einer extremen Wetterlage, bei der die Rettungskräfte nicht ausrücken können. Trotzdem kann keiner alle möglichen Kombinationen überblicken. Deshalb verfolgt man inzwischen eher einen anderen Ansatz: Die Anlage muss eine bestimmte Kraft oder Belastung einfach aushalten, egal was die Ursache ist. Bei diesen Analysen stellt man fest, wie groß der Stress maximal sein darf. Um es platt zu sagen: Wenn ein Phantom-Jäger auf Biblis fällt, hält das Kraftwerk stand, bei einem Airbus A380 nicht. Aber das war schon vor Japan klar. Wir müssen entscheiden, ob wir das Risiko eingehen wollen oder nicht.

Aktuellen Umfragen zufolge hat sich ein Großteil der Bevölkerung dagegen entschieden.

Deutschland ist ein Sonderfall. Alles, was mit Strahlung oder Atom zu tun hat, mobilisiert die Menschen hier enorm. Die Leute in Japan sind da viel nüchterner. Bei uns werden Jodtabletten knapp, in Tokio nicht. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir hier sehr viel stärker reagieren.

Wie geht es weiter mit der Kernenergie, wird es eine globale Wende geben?

In Ländern mit einer demokratischen Öffentlichkeit wird es starke Debatten geben. Wie die ausgehen, lässt sich nicht genau vorhersagen. Solche Diskussionen können eine starke Eigendynamik entwickeln. Es kann aber ebenso gut sein, dass eine gefestigte Meinung herauskommt, die sagt: Wir bleiben dabei. Wir wissen, dass das Risiko hoch ist, aber wir können damit leben. In Ländern, in denen es eher eine autokratische Herrschaft gibt, etwa China und teilweise auch Russland, wird man wahrscheinlich bei der Kernenergie bleiben. Zumindest bei China sehe ich überhaupt keine Chance, dass dieser Weg noch einmal verlassen wird.

Wie geht es in Europa weiter?

Ich denke, dass Deutschland und Österreich aus der Technik aussteigen werden, auch Schweden wird es sich erneut überlegen, ob es den Ausstieg aus dem Ausstieg nicht wieder rückgängig machen will.

Und Frankreich?

Da gibt es wieder interessante Mentalitätsunterschiede. Umfragen zufolge nehmen die Franzosen die Risiken der Kernenergie genauso negativ wahr wie die Deutschen. Aber sie vertrauen ihren Eliten mehr. Wenn die französischen Experten sagen, dass Kernkraft notwendig ist, dann glauben sie deren Einschätzung. Außerdem befindet sich Frankreich in einer anderen Lage, ähnlich wie Japan. Es müssen fossile Energieträger in großem Stil importiert werden. Die Kombination „nuklear plus regenerativ“ ist deshalb sehr attraktiv. In Deutschland gibt es noch die Kohle, da kann man leichter auf zusätzliche Energiequellen verzichten.

Was nützt der deutsche Ausstieg, wenn direkt hinter der Grenze zu Frankreich die Reaktoren weiterlaufen?

Wenn wir aus der Technik aussteigen wollen, dann müssen wir auch Vorreiter sein. Egal was die anderen tun. Das ändert nichts daran, dass der Reaktor im elsässischen Fessenheim noch näher am Erdbebengebiet liegt und noch schlechter gegen Erdstöße ausgelegt ist als die deutschen Kernkraftwerke. Die Gefährdung ist da. Deshalb sollten wir alles tun, um im europäischen Raum zu relativ einheitlichen Sicherheitsstandards zu kommen. Ich glaube, dass durch den Unfall in Japan die Chance größer geworden ist, dass wir uns da einigen können.

Das Interview führte Ralf Nestler.





Ortwin Renn (59),

ist Professor an der Universität Stuttgart. Er befasst sich vor allem mit Risikoforschung und Technikfolgenabschätzung.

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