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Wunderfolie. Der Physik-Nobelpreis wird für die Erforschung von Graphen – ein Netz aus Kohlenstoffatomen – vergeben.

© p-a/dpa

Russland: Der verpasste Nobelpreis

Nach dem Erfolg von Geim und Novoselov diskutiert Russland, wie man heimische Forscher halten kann. Vor den Toren Moskaus entsteht ein Hightech-Park.

Wer darf sich den diesjährigen Nobelpreis für Physik an die Heldenbrust heften? Diese Frage treibt in Russland nicht nur die Forschergemeinde und die Medien um, sondern auch die Politiker. In der vergangenen Woche hatte das Nobelpreiskomitee in Stockholm verkündet, den höchsten Forschungspreis in der Sparte Physik an Andre Geim, 52, und Konstantin Novoselov, 36, zu vergeben. Beide wurden zwar in Russland geboren und studierten hier auch, ihre Entdeckung machten sie jedoch im Ausland, an der Universität Manchester. Ihnen gelang es, hauchdünne Kohlenstofffolien namens „Graphen“ zu separieren und genauer zu untersuchen. Sie sind extrem stabil und sehr leitfähig und gelten deshalb als Material der Zukunft: etwa für schnelle Transistoren oder Touchscreens.

Geim verschlug es bereits Anfang der neunziger Jahre nach Manchester. Er hat einen niederländischen Pass, sein Schüler Novoselov hat sowohl die russische als auch die britische Staatsbürgerschaft.

Beide sind kein Einzelfall. Nach dem Ende der Sowjetunion 1991 suchten tausende russische Wissenschaftler – vor allem junge – ihr Glück in Westeuropa und den USA. Zwar machen sich russische Medien periodisch über den Aderlass her. Aufs Korn werden dabei jedoch meist die „Renegaten“ genommen, die doch wenigstens das Geld für die Ausbildung zurückzahlen sollen, das ihnen der Staat angedeihen ließ. Eher selten wurden bisher die Ursachen für den Massen-Exodus der Wissenschaftler hinterfragt: ausufernde Bürokratie, mangelnde Freiheit, Konzeptlosigkeit in der Forschungspolitik und chronische Unterfinanzierung. So jedenfalls beschreiben es die Gäste von Talkshows bei kritischen Radiosendern.

Klebeband, mit dem die beiden Preisträger 2004 Graphit zerlegten und damit Graphen gewannen, habe es damals auch in Russland bereits gegeben, ätzte etwa der Chefredakteur des Wissenschaftsjournals „Wokrug sweta“ Alexander Sergejew. Höchst fraglich sei indes, ob die Physiker hier Zugriff auf Technik bekommen hätten, um nachzuweisen, dass sie Schichten von der Stärke eines einzigen Atoms – darauf nämlich beruht die Wirkung des neuen Werkstoffs – isoliert hatten.

In der Tat: Nur wenige Institute haben die dafür benötigten Hochleistungsmikroskope und untersagen fremden Kollegen aus Prestigegründen deren Benutzung. Dazu kommt, dass angejahrte Platzhirsche wie zu Sowjetzeiten Projekte junger Kollegen abblocken. Im Westen dagegen seien die Hierarchien flacher, sagt der Gerontologe Shores Medwedew, ein Star der Zunft, der inzwischen ebenfalls in Großbritannien forscht. Wissenschaftler hätten dort mehr Freiheit und dürften sich mit Dingen befassen, deren praktischer Nutzen nicht sofort erkennbar sei.

Auch rächt sich seit geraumer Zeit, dass das postkommunistische Russland Staatskonzernen, wo Forschung und die technische Umsetzung ihrer Ergebnisse bis hin zur Serienproduktion angesiedelt waren, einfach den Geldhahn zudrehte.

Präsident Dmitri Medwedew lässt das Konzept jetzt recyceln. Gleich hinter dem Moskauer Autobahnring entsteht in Skolkowo mit Staatsgeld und milliardenschweren Investitionen russischer wie ausländischer Unternehmen ein Innovationszentrum, das Lehre, Forschung und Produktion integriert und Russland in die Liga der Hightech-Exporteure katapultieren soll. Kreml und Regierung hoffen dabei auch auf genügend Strahlkraft, um wenigstens Teile der nach Westen ausgewanderten Wissenschaftler zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen.

Leicht wird es nicht werden. Geim und Novoselov haben eine indirekte Einladung Medwedews zur Mitarbeit am Innovationsprojekt Skolkowo bereits abgelehnt.

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