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Wissen: Sanfte Geiselbefreiung

Mit Hilfe mathematischer Navigationssysteme will der Chirurg Peter Schlag Krebskranke aus dem Griff ihrer Krankheit befreien

Durch Berlin kann sich Peter Schlag inzwischen ganz gut ohne Navigationssystem bewegen. Der gebürtige Oberbayer ist längst in der Hauptstadt angekommen: Er ist schließlich seit 1992 Direktor der Klinik für Chirurgie und Chirurgische Onkologie auf dem Campus Buch der Charité, seit einigen Jahren auch Vorsitzender der Berliner Krebsgesellschaft.

Wenn schon nicht zur Orientierung in der eigenen Stadt, so brauchen Tumorchirurgen wie Schlag zuverlässige Navigationssysteme dringend als Hilfe bei der täglichen Arbeit. Zum Beispiel, wenn sie bösartiges Gewebe aus der Leber entfernen müssen. Chirurgische Präzision ist entscheidend: Die Krebsgeschwulst sollte zusammen mit einem kleinen Sicherheitsrand aus gesundem Umgebungsgewebe entfernt werden. Zeigt das herausgeschnittene Gewebe unter dem Mikroskop des Pathologen bis zum Rand bösartige Zellen, dann verringert das die Heilungswahrscheinlichkeit.

Andererseits ist es für den Patienten nicht gut, wenn ihm zu viel gesundes Lebergewebe entfernt wird, denn das wird für die Entgiftung dringend gebraucht. Das perfekte Maß ist schwer zu finden. Dazu müssen die Operateure ständig auf der Hut sein, um nicht wichtige Blutgefäße zu verletzen. Bei ihrer Maßarbeit werden sie heute durch dreidimensionale Bilder unterstützt, die schon vor dem Eingriff gemacht wurden. Während der Operation erleichtert ihnen zudem der Einsatz von Ultraschallgeräten die Navigation. Trotz allem bleiben meist Intuition und Tastsinn entscheidend.

Ein Navigationssystem für Bauchoperationen zu entwickeln ist nicht nur deshalb aufwändig, weil für jeden Patienten individuell eine computerbasierte Planung erstellt werden muss. Es mangelt zudem im menschlichen Bauchraum an festen Bezugspunkten. Im Unterschied zu den Straßenzügen Berlins, die ihre Lage nicht ständig verändern, verschieben sich im Körperinneren die Koordinaten bei jedem Atemzug. Noch mehr tun sie das durch die Vorgänge bei der Operation selbst.

Es ist Aufgabe von Mathematikern, schon vor der Operation ein möglichst präzises Bild von der Lage des Organs und den Grenzen zu benachbarten Strukturen zu gewinnen. Mit diesem Problem beschäftigen sich Wissenschaftler um Peter Deuflhard vom Berliner Konrad-Zuse-Institut. Sie erstellten auf der Basis großer Datenbanken ein Modell der menschlichen Leber in verschiedenen Varianten. Diese Prototypen können mit computertomographischen Aufnahmen des jeweiligen Patienten verglichen werden, so dass ein individuelles dreidimensionales Modell seiner Leber entsteht. „Die Lage aller anderen Punkte exakt zu berechnen, wenn ein Bezugspunkt sich ändert, ist dann angewandte Mathematik“, sagt Schlag.

Die Berliner Mathematiker haben zusammen mit Mitarbeitern von Schlag für die hohe Genauigkeit ihrer Berechnungen 2007 bei einer Fachkonferenz zur computergestützten Bildverarbeitung in der Medizin im australischen Brisbane den ersten Preis erringen können.

In zwei Studien, die ebenfalls 2007 veröffentlicht wurden, zeigte sich, dass ihre Berechnungsmethoden sich bei der navigationsgestützten Operation von Lebermetastasen sinnvoll einsetzen lassen. „Diese ersten Analysen ergaben, dass das Verfahren Vorteile für bestimmte Patienten bringt“, sagt Schlag. „Wir können auch an schwierigen Stellen der Leber bei ausreichendem Sicherheitsabstand gewebeschonend operieren.“

Die aufwändigen Eingriffe fanden in der Robert-RössleKlinik in Buch statt. Ihre mathematische Präzision könnte in Zukunft vor allem für jene Krebskranken wichtig werden, deren Leber sich nach einer Chemotherapie in der Struktur verändert hat und für die es besonders wichtig ist, dass möglichst große Anteile des Entgiftungsorgans gerettet werden können. Eine weitere Option sind minimalinvasive „Schlüsselloch“-Eingriffe, bei denen dem Chirurgen sein bloßes Auge und seine tastende Hand gar nicht mehr helfen können.

Klinikchef Schlag selbst würde nicht behaupten, dass Mathematik in der Schulzeit sein Lieblingsfach war. Schon weil Zeitzeugen aus seiner Heimatstadt Bad Tölz Widerspruch einlegen könnten, bleibt er lieber bei der Wahrheit. „Ich bin eher ein Mensch, der sich in den schönen Künsten wohlfühlt.“ Er mag jedoch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus ganz anderen Fachgebieten. „Das Schöne an einer großen Universität und an einer Stadt wie Berlin ist ja, dass man solche Begegnungen hier ständig haben kann, wenn man sie sucht und braucht.“

Als Krebsmediziner weiß er ohnehin, dass ein Spezialgebiet allein oft wenig ausrichtet. Die Operationen, mit denen ein Tumor entfernt wird, sind zwar oft der spektakulärste Teil der Behandlung. „Leider verbessert aber auch ein weitreichender Eingriff die Heilungsraten in vielen Fällen nur minimal.“ Ohne Teams, in denen die einen dem bösartigen Gewebe seine molekularbiologischen Eigenarten entlocken, die anderen die Therapieelemente möglichst präzise darauf abstimmen, geht es nicht mehr. Zentren für Brust-, Darm- oder Hautkrebs sind die logische Folge dieser Erkenntnis. Doch der Konzentrationsprozess allein führt für Schlag noch nicht weit genug. „Krebs macht nämlich auch so gut wie nie an einem Organ Halt.“ In „Comprehensive Cancer Centers“, speziellen Tumorzentren, sollten deshalb nach seiner Ansicht auch die verschiedenen Fachärzte über Organgrenzen hinweg zusammen finden. „Wenn man Krebspatienten möglichst gut helfen will, muss man alles zusammen denken: die handwerklichen Voraussetzungen des Operierens, den Nutzen und die Risiken unterschiedlicher Therapien, die biologischen Besonderheiten des Tumors, die individuellen Nöte und Vorstellungen des Betroffenen und seiner Angehörigen.“

Weil all das ein ziemlich kompliziertes und auch sensibles Gefüge bildet, hält der Chirurg wenig davon, von Krebsbehandlung in militärischen Begriffen zu sprechen. „Das Wort Kampf ist in diesem Zusammenhang sehr unglücklich. Da denken Ärzte dann womöglich nur daran, den Krebs niederzukämpfen, dabei liegt der Patient längst am Boden.“

Wenn schon Vergleiche gefragt sind, sieht er Krebs eher als Geiselnahme. Die bösartige Erkrankung hält den Patienten gefangen. „Wir müssen an intelligenten Ansätzen arbeiten, mit denen wir die Geisel möglichst schonend befreien.“ Dafür ist es wichtig, den Charakter und die Gefährlichkeit der Geiselnehmer möglichst gut einschätzen zu können. Und natürlich muss man ihren genauen Aufenthaltsort kennen. Womit wir doch wieder beim Segen guter Navigation wären.

Adelheid Müller-Lissner

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