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Die Computertomographie hilft, Hirnschäden zu entdecken.

© IMAGO

Schädel-Hirn-Trauma: Gefangen in der Knochenkapsel

Nach einer schweren Verletzung wie der von Michael Schumacher muss das Gehirn vor allem von zu hohem Druck entlastet werden. Eine rasche Therapie kann helfen, die Folgen des Traumas zu lindern

Der Engländer Nick, 18, liebte das Risiko. Er war ein „boy racer“ und fuhr einen frisierten Opel Corsa. Als er zwei langsame Autos überholen wollte, verschätzte er sich und raste, ohne angeschnallt zu sein, direkt in einen entgegenkommenden Lieferwagen. Dreieinhalb Wochen später erwachte Nick aus dem Koma. Heute, zwölf Jahre danach, sitzt er im Rollstuhl. Nick spricht langsam und nur mit Mühe. Beim Unfall wurde sein Gehirn schwer verletzt. „Mein Leben ist ein täglicher Kampf“, sagt er und blickt schonungslos auf die Fahrlässigkeit von einst zurück. Selbst die früheren Freunde haben ihn verlassen, berichtet Nick auf der Website des britischen Gesundheitsdienstes NHS.

Nicks Schicksal ist so tragisch wie alltäglich, denn Verkehrsunfälle und Stürze sind häufig Ursache einer Schädel-Hirn-Verletzung. Auch Michael Schumachers schwerer Skiunfall ist außergewöhnlich nur insofern, als es mit ihm einen prominenten Sportler getroffen hat. In Deutschland erleiden jedes Jahr knapp eine Viertelmillion Menschen eine Schädel-Hirn-Verletzung. Neun von zehn haben lediglich eine leichte Blessur, eine Gehirnerschütterung. Sie verlieren nur kurzzeitig das Bewusstsein und haben meist keine Spätfolgen zu befürchten.

Anders sieht es bei einer mittelgradigen (Gehirnprellung, vier Prozent aller Fälle) und schweren Hirnverletzung (Gehirnquetschung, fünf Prozent der Fälle) aus. Insgesamt sterben jährlich etwa 2750 Patienten an einem traumatischen (verletzungsbedingten) Hirnschaden. Schädel-Hirn-Verletzungen sind in Deutschland die häufigste Todesursache vor dem 40. Lebensjahr.

Nach einem Unfall müssen die Ärzte das Ausmaß der möglichen Hirnverletzung rasch abschätzen. Gebräuchlich ist die Glasgow-Koma-Skala, mit der Augenöffnen (sind die Augen offen, wird auf Anweisungen reagiert?), Sprach- und Sprechvermögen (Anzeichen der Verwirrtheit?) und Bewegungsverhalten (Reaktion auf Anweisungen oder Schmerzreize) abgeschätzt und mit Punkten bewertet werden. Ein leichtes Trauma liegt bei 13 bis 15 Punkten vor, bei acht Punkten und weniger geht man, wie bei Michael Schumacher, von einer lebensbedrohlichen schweren Hirnverletzung aus. Patienten mit schwerem Trauma werden praktisch immer künstlich beatmet.

Das empfindliche Gehirn – seine Beschaffenheit entspricht etwa der eines gekochten Eis – ist durch Schädelknochen fast völlig eingehüllt und geschützt. Bei verletzungsbedingten Blutungen und Schwellungen entpuppt sich die knöcherne Kapsel jedoch als Nachteil. Das Hirngewebe kann nicht ausweichen und wird zusammengepresst. „Wenn ein verletztes Hirnareal anschwillt, dann zerdrückt es gesundes Gewebe“, sagt der Neurochirurg Johannes Lemcke vom Unfallkrankenhaus Berlin. Der steigende Druck kann dazu führen, dass der Hirnstamm am Hinterhauptsloch, der Verbindung des Gehirns zum Rückenmark, einklemmt. Damit droht eine Atemlähmung.

Der Hochdruck im Kopf gefährdet auch die Durchblutung. Gerade das Gehirn ist aber besonders auf Sauerstoff angewiesen. Im Normalfall steuert es seinen Blutdruck selbst und ist damit in weitem Maß autonom vom Auf und Ab des Blutdrucks im Körper. Durch eine schwere Verletzung wird diese „Selbstorganisation“ außer Kraft gesetzt. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen der Blutdruck nach einem Hirntrauma ohnehin erniedrigt ist. Auf der Intensivstation muss deshalb der Blutdruck ständig überwacht und mit adrenalinähnlichen Medikamenten stabil gehalten werden.

Die Behandlung eines schweren Schädel-Hirn-Traumas ist ein Fall höchster „Therapieintensität“, sagt der Neurochirurg Peter Vajkoczy von der Berliner Charité. „Das Besondere am Schädel-Hirn-Trauma ist, dass wir immer nur die Folgen mildern können“, sagt der Neurochirurg Lemcke. „Zerstörtes Hirngewebe ist unwiederbringlich verloren, wir können nichts ,reparieren’ wie bei einem Knochenbruch oder Sehnenriss.“

Eine Sonde im Kopf misst den Druck im Gehirn

Wesentliches Ziel der Akutbehandlung ist es, das Gehirn zu entlasten und so viel Gewebe wie möglich zu retten. Um den Druck im Kopf zu messen, wird oberhalb der rechten Stirn durch ein kleines Loch eine feine Sonde ins Gehirn eingeführt. Neurochirurgen versorgen Verletzungen des Schädels und können Einblutungen im Bereich der Hirnhäute unter der Schädeldecke beseitigen. Auch bei Schumacher erfolgte ein solcher Eingriff.

Als äußerste Maßnahme kommt eine Entlastungsoperation infrage. Dabei wird ein großer, etwa 16 bis 18 Zentimeter Durchmesser umfassender Teil der Schädeldecke entfernt und damit der Druck im Gehirn gesenkt. Die Haut wird über der Lücke wieder zusammengenäht und deckt das Gehirn so ab. Der Knochen wird bei minus 80 Grad gekühlt, um ihn später wieder einzusetzen. Es ist ein schwerwiegender Eingriff, der erhebliche Komplikationen und Spätfolgen haben kann.

Häufig wird mit Infusionen versucht, das Gehirn zu entwässern. Verwendet werden Lösungen mit Salz oder dem Zuckeralkohol Mannitol. Sie „saugen“ Flüssigkeit aus dem Hirngewebe ins Gefäßsystem ab. Allerdings hat auch diese Behandlung ihre Tücken. So kann Mannitol in einem Verletzungsareal ins Gehirn sickern und hat dann den gegenteiligen Effekt – es hält Wasser im Gehirn, statt es herauszuziehen.

Das künstliche Koma soll helfen, Nervengewebe vor dem Untergang zu retten

Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist ein künstliches Koma, in das auch Schumacher versetzt wurde. Der durch Medikamente erzeugte schmerzfreie Tiefschlaf soll den Stoffwechsel des Gehirns auf das Nötigste verringern und so den Druck im Kopf senken. Ein ähnliches Ziel verfolgt man mit der künstlichen Unterkühlung, die ebenfalls bei Schumacher vorgenommen wurde. Dabei wird der Körper mit Kühlmatten oder Infusionen auf etwa 33 oder 34 Grad heruntergekühlt. Der verlangsamte Stoffwechsel im „kühlen Kopf“ soll helfen, Nervengewebe vor dem Untergang zu schützen.

Die komplizierte Behandlung einer schweren Hirnverletzung ist oft eine Gratwanderung, eine Frage schwieriger Abwägungen. Ein Allheilmittel gibt es nicht, bewährt hat sich jedoch die Therapie in spezialisierten Zentren für Hirnverletzungen. „Die echten Fortschritte der letzten Jahrzehnte waren vor allem organisatorischer Natur, im Krankenhaus wie bei der Notfallrettung“, sagt Johannes Lemcke vom Unfallkrankenhaus. Dazu gehört die rasche und qualifizierte Hilfe am Unfallort, etwa durch schnelle Beatmung.

Auch bei der Vorbeugung hat sich etwas getan. Durch Airbags konnte das Risiko für Autoinsassen deutlich gesenkt werden. Helme bei Rad- und Motorradfahrern können das Schlimmste verhüten. Schumacher hat der Helm vermutlich vor dem Tod bewahrt.

Bleibende Schäden sind bei schweren Hirnverletzungen so gut wie unvermeidlich. Allerdings können sich Patienten dank intensiven Trainings erstaunlich gut erholen. Das liegt vermutlich auch daran, dass in einem Verletzungsareal des Gehirns oft mehr Nervenzellen überleben als etwa nach einem Schlaganfall.

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