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Es heißt, es hilft, über traumatische Erlebnisse zu reden. Wer das nicht mag, kann sich aufs Schreiben verlegen. Untersuchungen zufolge könnte das auch Depressionen, Angststörungen, Burnout oder Suchterkrankungen wirken.

© Getty Images/iStockphoto

Schreibtherapie: Worte gegen die schlechten Gefühle

Schicksalsschläge zu Papier zu bringen, kann helfen, mit ihnen abzuschließen. Dafür aber muss man die Emotionen erneut durchleben.

Am Ende der Krise beschloss Petra Ötinger, alles aufzuschreiben. Ihr Partner hatte sie finanziell ausgebeutet und bedroht, bis sie sich von ihm trennte und mit den drei Kindern alleine zurückblieb. Sie wollte die Beziehung noch einmal von Anfang bis Ende durchgehen, auch um zu verstehen, wie er sie so hatte täuschen können. "Ich erinnere mich, dass ich mich zum ersten Mal 2012 im Treppenhaus mit diesem Mann unterhielt. Er wirkte zugewandt auf mich, hörte zu und fragte nach. Und es knisterte schon zwischen uns. Er war so charmant und sympathisch, dass ich nie daran gedacht habe, dass alles eine blendende Fassade sein könnte."

Die Gedanken müssen ungeschönt aufs Papier

Mit der Entscheidung, ihre Erfahrungen niederzuschreiben, folgt Ötinger (Name geändert) einem Impuls. Wie gut ihr Instinkt sie leitet, ahnt sie nicht. Rund 200 Studien gibt es zur "Poesie- oder Schreibtherapie". Sie zeigen, dass Schreiben oft hilft, nicht nur Gesunden, sondern auch vielen Erkrankten. Vorausgesetzt, die eigenen Gefühle und Gedanken werden ungeschönt zu Papier gebracht.

Schreibtherapie ist hierzulande bei Weitem nicht so populär wie die Psychotherapie und auch viel weniger bekannt als andere kunstbasierte Angebote wie die Musiktherapie. In den USA ist das anders. Der Psychologe James Pennebaker von der University of Texas begründete in den 1980ern eine standardisierte Methode des heilsamen Schreibens, das "expressive writing". Dabei wird an drei oder vier aufeinander folgenden Tagen für 15 bis 20 Minuten über ein belastendes Lebensereignis geschrieben.

In Deutschland ist die Literaturwissenschaftlerin Silke Heimes eine der Protagonistinnen der Schreibtherapie. "Ich habe selbst immer gerne geschrieben. Es hat mir bei Entscheidungen und in schwierigen Situationen geholfen. Deshalb bin ich auf diese Therapieform gekommen", sagt die Autorin mehrerer Bücher zur Schreibtherapie.

Aufschreiben bringt Kontrolle

Grammatik oder Stil spielen dabei keine Rolle, hindern eher am authentischen Schreiben. Die Wörter sollen aufs Papier, wie sie dem Gehirn entspringen. "Verabschieden Sie sich von Ihrem inneren Anspruch", sagt Heimes. Man schreibe für sich, nicht, um sich zu beweisen oder zu gefallen. Zwar kann der Strom der Emotionen und Gedanken eine Geschichte oder ein Gedicht ergeben. Aber das ist nicht das Ziel. "Wenn Teilnehmer sehr zu einer Form neigen, gebe ich ihnen sogar auf, gezielt eine andere Form zu probieren, um sie so aus gewohnten Denkmustern herauszuholen", sagt Heimes.

Letztlich ist dieses biografische Schreiben das, was viele in einem Tagebuch notieren würden. Gedanken, Gefühle, Imaginationen, Assoziationen, die einen sehr beschäftigt und bewegt haben. Der Ärger mit dem Partner macht sich in den Zeilen ebenso Luft wie die Rührung beim Betrachten eines Sonnenaufgangs. "Für Menschen, die die Schreibtherapie noch nicht kennen, nenne ich das Tagebuch der Anne Frank. Sie hat sich fiktiv mit dem Schreiben einen Gesprächspartner geschaffen und dadurch in jenem Kämmerchen emotional überlebt", sagt Heimes.

Expressives Schreiben lässt Geschehnisse noch einmal vor dem geistigen Auge ablaufen. Das hilft, Abstand zu gewinnen. Das zeigte etwa eine Studie von Laurie Barclay und Daniel Skarlicki von der University of British Columbia in Vancouver mit hundert Angestellten, die an vier aufeinanderfolgenden Tagen über ein Ärgernis am Arbeitsplatz berichteten. Ein Teil der Probanden sollte sich jedoch über ein neutrales Thema auslassen. Die Befassung mit dem, was wirklich aufregte, lohnte.

Jene, die den Konflikt niederschrieben, waren danach weniger wütend und rachsüchtig, zugleich entschlossener, wie sie im Fall einer Wiederholung vorgehen würden. Sie hatten sogar mehr Ideen für mögliche Lösungen. Insgesamt fühlten sie sich besser. "Indem man das Problem aufschreibt, gewinnt man Kontrolle darüber", sagt Nicholas Mazza, Präsident der "National Association for Poetry Therapy".

Die Methode klappt auch in Liebesdingen

Der Preis dafür ist allerdings, dass jene, die sich auf das schriftliche Déjà-vu einlassen, die negativen Gefühle erneut durchleben. "Die meisten fühlen sich unmittelbar nach dem expressiven Schreiben schlechter als vorher", sagt Pennebaker. "Oft sind sie melancholisch, manchmal auch aufgewühlt. Das gibt sich aber innerhalb von ein bis zwei Stunden. Das Wichtigste: In keiner Studie verschlechterte sich der Gesundheitszustand langfristig."

Im Gegenteil: Viele Experimente deuten darauf hin, dass sich das Befinden und die seelische Widerstandskraft über kurz oder lang bei den meisten verbessert. Etwa setzten sich einige Dutzend Teilnehmer mit starken Stimmungsschwankungen vier Mal für 20 Minuten hin und formulierten ihre Gedanken und Gefühle über ein belastendes, ein positives oder ein neutrales Erlebnis. Personen, die über gute oder schlechte Erfahrungen am eigenen Leib geschrieben hatten, waren nach den Sitzungen weniger bedrückt, weniger ängstlich und empfanden sich als weniger gestresst.

Beim mentalen Rekapitulieren distanziert man sich von den eigenen Gefühlen und betrachtet sich selbst ein Stück weit aus der Vogelperspektive. Dadurch überdenkt man das Geschehene nochmals. Dies stellte der Gesundheitswissenschaftler Stephen Lepore von der Temple University in Philadelphia in einem Experiment an 72 Männern und 73 Frauen fest. Sie schrieben entweder über das Ende einer persönlichen Beziehung oder über Beziehungsthemen ganz abstrakt. Jene, die über die eigene Liebe schrieben, fühlten sich in der Zeit danach vitaler und weniger verspannt. Sie waren insgesamt gesünder. Und sie verfingen sich später seltener in traumatischen Ereignissen, dachten also nicht ständig über ihre seelischen Wunden nach.

Sich Belastendes von der Seele zu schreiben, erleichtert und hebt einer Reihe von Studien zufolge die Stimmung. Als Erster dokumentierte das 2003 der Gründervater der Schreibtherapie James Pennebaker. Er ließ die eine Hälfte von 52 Studierenden ein bewegendes und die anderen ein sachliches Thema schriftlich erörtern, und zwar an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Zwei Wochen danach zeichnete er mit einem Aufnahmegerät über zwei Tage die sozialen Begegnungen der Testpersonen auf. Er verglich dies mit Kontrollaufnahmen, die er zwei Wochen vor dem Experiment gemacht hatte. Wer sein Herz ausgeschüttet hatte, lachte danach öfter und schneller und war zuversichtlicher als die übrigen Probanden.

Das Schreiben hilft, mit Themen abzuschließen

Bis heute diskutieren Forscher verschiedene Theorien, weshalb das biografische Schreiben entlasten kann. Wahrscheinlich sind es mehrere Mechanismen, die ineinandergreifen. Den Seelenkummer in Worte zu fassen und sich damit zu offenbaren, schmälert diesen schon. Deshalb wirkt auch die klassische Psychotherapie. Noch wirkmächtiger ist aber ein anderer Effekt, meint Pennebaker. "Wenn wir schreiben, reflektieren wir, wir analysieren und fügen Gefühle und Gedanken zu einer kohärenten Geschichte zusammen. Nachdem wir das getan haben, können wir damit eher abschließen. Wir haben wieder geistige Ressourcen für anderes."

Tatsächlich zeigen Studien, dass Menschen nach einer Schreibtherapie weniger über die belastenden Erlebnisse grübeln. Das Kreisen in negativen Gedankenwelten ist aber ein wichtiger Risikofaktor für seelische Erkrankungen. "Offenbar müssen wir Menschen emotional aufwühlende Erfahrungen in unsere eigene Geschichte einbetten, damit unsere seelische Gesundheit erhalten bleibt", so Pennebaker.

Besonders günstig wirkt es sich aus, wenn das Geschriebene auch gelesen wird. Darauf deuten mehrere Untersuchungen hin. Etwa schrieben sich in einer Paartherapie sechs Paare wechselseitig Briefe. Immer hatte ein Partner eine Affäre gehabt. In der Korrespondenz brachten die Betrogenen wie auch die Untreuen ihre Gefühle und Gedanken zum Ausdruck. Dadurch, so beobachtete Kristina Coop Gordon von der University of Tennessee in Knoxvill, ließen Wut und Enttäuschung bei den Beteiligten nach. Das gegenseitige Verständnis wuchs. Mit einer ähnlichen Form der Schreibtherapie konnte Pennebaker 2011 Kriegsheimkehrern helfen. Er forderte einige unter 105 Personen auf, drei Mal an einem Tag über belastende Kriegserfahrungen an ihre Frauen zu schreiben. Danach fühlten sich diese wohler und die Beziehung der Veteranen zu ihren Frauen verbesserte sich.

Das Schreiben hat bisher keine Lobby

Das zeigt, dass Schreibtherapie in der Gruppe oder bei schreibenden Paaren noch wirksamer wäre, vor allem wenn die Korrespondierenden ähnliche Lebensereignisse durchlitten haben, etwa einen Angehörigen verloren oder einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich haben. In Internetforen finden sich solche Schreibtrios oder -duos mitunter zusammen.

"Es erleichtert sehr, gehört zu werden und mit einem Gefühl nicht alleine zu sein", sagt Heimes. Gute Erfolge erzielte auch sie mit einer Gruppenschreibtherapie in einer psychiatrischen Abteilung in einer Schweizer Privatklinik, wo sie Menschen mit Depressionen, mit Angststörungen, mit Burn-out oder Suchterkrankungen zum Schreiben motivierte. "Viele waren erstaunt, wie leicht das geht. Und vor allem, dass sie selbst etwas für sich tun können, ohne Therapeut. Das stärkt sie sehr, zumal viele der Patienten ein geringes Selbstwertgefühl haben." Etliche Teilnehmer schreiben Heimes noch heute, sagt sie.

Die Schreibtherapie lindert eine Reihe seelischer Krankheiten. Einzelne Studien belegen eine Wirkung bei posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen, Essstörungen und Süchten. Allerdings sind die Ergebnisse teils widersprüchlich. Manche Experimentatoren fanden keinen Effekt. Deshalb, aber wohl auch mangels Kenntnis, empfehlen medizinische Fachgesellschaften die Schreibtherapie bislang nicht. Das mag auch am Fehlen einer Lobby für die Schreibtherapie liegen: Eine Fachorganisation gibt es in Europa nicht.

"Sich die Lasten von der Seele zu schreiben, ist kein Wundermittel", warnt Pennebaker, ermutigt aber zu pragmatischem Ausprobieren. "Das biografische Schreiben ist etwas für jeden", sagt Heimes. Besonders profitieren den Studien zufolge Personen, die wenig soziale Unterstützung haben. Schon drei Minuten am Tag hätten positive Effekte.

"Menschen mit einer schweren Depression, mit einer Schizophrenie oder in einer Psychose sollten aber nicht schreiben", warnt Pennebaker. "Sie sind bereits so tief in ihrer eigenen Welt, können bei Wahnvorstellungen Realität und Fiktion nicht mehr unterscheiden, dass sie nicht noch mehr Selbstbefassung brauchen."

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