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Vielschreiber. Der Kirchenfürst Nikolaus von Kues hinterließ an vielen Orten Schriften. Ein Bonner Studienrat und ein Kölner Professor übergeben ihr noch lange nicht abgeschlossenes Editionsprojekt jetzt Historikern der Humboldt-Universität.

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Schriftensammlung zu Nikolaus von Kues: Zwei Forscherleben für einen großen Schatz

Jahrzehntelang haben zwei Forscher Schriften des mittelalterlichen Denkers Nikolaus von Kues gesammelt, nun werden die Zettelkästen übergeben. Zeit, einen großen Schatz zu würdigen.

Von Anna Sauerbrey

Im Wohnzimmer von Hermann Hallauer in Bonn Bad Godesberg hat die Vorberliner Wissenschaftsrepublik die Veränderungen der letzten 60 Jahre unbeschadet überlebt. Strukturgeschichte und Digitalisierung, Bolognareform und Studiengebühren fühlen sich hier an wie blasse Fantasmen. Der Blick fällt durch Gardinen auf den Garten. Einen Computer gibt es nicht. Der Schatz des pensionierten Studienrates Hallauer stapelt sich in Karteikästen mit vergilbten Schildchen rundherum bis unter die Decke: Der Ertrag jahrzehntelanger Arbeit, Papier gewordene Zeit, mühsam abgespart vom Dienst als Geschichtslehrer an einem Bonner Gymnasium und in den Dienst gestellt einer einzigen historischen Persönlichkeit, Nikolaus von Kues, dem großen Denker und Politiker des späten Mittelalters.

Die Bonner Zettelkästen, sagt der Berliner Historiker Johannes Helmrath, sind das wohl größte Archiv zu Nikolaus von Kues überhaupt. Gemeinsam mit Erich Meuthen, Geschichtsprofessor an der Universität Köln, hat Hermann Hallauer jahrzehntelang Archive durchforstet und die Fundstücke in den „Acta Cusana“ zusammengestellt, einem groß angelegten Editionsprojekt zur mittelalterlichen Geschichte. 1976 erschien der erste Teilband. Die Acta Cusana bilden einen Zugang zum Leben des mittelalterlichen Philosophen und Kirchenfürsten Nikolaus von Kues (latinisiert Nicolaus Cusanus), bieten aber in ihrer schieren Fülle auch eine unverzichtbare Quelle für alle, die sich für die Kirchen-, Politik- und Alltagsgeschichte des Mittelalters interessieren.

Nur abgeschlossen sind sie nicht. Nachdem zwei ganze Forscherleben investiert wurden, ist gerade einmal der erste Band fertig, die beiden Herausgeber aber sind zu alt, um das Projekt weiterzuführen. Erich Meuthen leidet seit einigen Jahren an Parkinson. Auch Hermann Hallauer, ebenfalls über 80 Jahre alt, macht die Gesundheit zu schaffen. „Die Jahre, die mir noch bleiben, will ich mit meiner Frau verbringen“, sagt er. „Das ist noch wichtiger als Cusanus.“ Daher zieht das Projekt nun vom Rhein an die Spree. Die Herausgeber haben Johannes Helmrath, Mediävist an der Humboldt-Universität, und seinen Mitarbeiter Thomas Woelki auserkoren, das Mammutprojekt weiterzuführen. Und so stehen die beiden Berliner an einem Sonntagnachmittag in dieser Konserve der Bonner Republik und verstauen Zettelkästen in Umzugskisten.

Unter den Geisteswissenschaftlern sind die Historiker die Hamster. Getrieben von manischer Sammelwut und der Sehnsucht nach Vollständigkeit sind über die Jahrhunderte immer wieder Editionsprojekte entstanden, die heute in Bibliotheken ganze Regale füllen und die so groß angelegt sind, dass sie die Arbeit vieler Forschergeneration gefordert haben und noch fordern werden. Ein prominentes Beispiel sind die Reichstagsakten, an denen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gearbeitet wird oder die Monumenta Germaniae Historica, die schon 1819 begründet wurden. Die Bedeutung für das Fach ist kaum zu überschätzen, ermöglichen sie doch erst den schnellen und unkomplizierten Zugriff auf die Quellen und ohne Quellen keine Geschichte. Die Monumenta sind inzwischen auch digital verfügbar, noch nie war es so einfach, kurz nachzuschlagen, was in dieser oder jener Urkunde Friedrichs II. stand. Das Finden, Bearbeiten und Herausgeben von Quellen ist die Grundlagenforschung der Geschichtswissenschaft.

Auch Erich Meuthen und Hermann Hallauer waren Grundlagenforscher. Wenn auch ihr Projekt nicht die Dimension der Monumenta oder der Reichstagsakten erreicht, ist es doch typisch für die mühevolle aber nützliche Hamsterei. Besonders macht die Acta Cusana, dass hinter dem Projekt keine Institution, sondern zwei leidenschaftliche Einzeltäter stehen. Erich Meuthen arbeitete viel an der Edition, Hermann Hallauer war „der Indiana Jones der Quellen“, wie Johannes Helmrath über den Lehrer sagt. In den Schulferien reiste er kreuz und quer durch die Lande, immer auf den Spuren von Nikolaus von Kues.

Der Kardinal wurde 1401 an der Mosel geboren, mitten hinein in turbulente Zeiten. Nach einer Doppelwahl stand Europa mit zwei, einige Jahre nach Kues’ Geburt sogar mit drei Päpsten da, Kirche und Königreiche waren gespalten. Kues studierte in Heidelberg und Padua, immatrikuliert sich später auch in Köln. Er wurde zum Universalgelehrten. Er publizierte zur Kirchenreform, zum Staatswesen und zu den Naturwissenschaften. Er entdeckt antike Schriften wieder. Er ist ein enger Vertrauter von Papst Nikolaus V. und wird 1448 selbst Kardinal. Nikolaus von Kues hat überall seine Finger im Spiel, er ist Politiker, Kirchenmann und Philosoph in einer Person.

Dementsprechend weit verstreut sind die Quellen, die er hinterlassen hat. Wo Meuthen und Hallauer ihre Reisen auch hinführten, besuchten sie die Archive und fahndeten nach Spuren des umtriebigen Humanisten. Hallauer spezialisierte sich besonders auf Archive in Tirol, da Kues unter anderem Bischof von Brixen war. Immer wieder verbrachten der Lehrer und seine Frau ihre Ferien in Tirol. Und während Frau Hallauer auf Bergwanderungen hoffte, durchsuchte ihr Mann die Dachböden von Pfarrhäusern nach mittelalterlichem Quellenmaterial. „Cusanieren“, nannte seine Frau das. Einmal fand er eine Cusanus-Urkunde eingemauert in den Altar einer kleinen Ortskirche. Ein anderes Mal, in London, erkannte er die Handschrift des Kardinals in Randbemerkungen von mittelalterlichen Aristoteles- und Platonausgaben und konnte sie so Beständen zuordnen, die ursprünglich aus Bernkastel-Kues stammten. „Es war jedes Mal ein Glücksgefühl, wenn ich in Archiven plötzlich seine Schrift entdeckt habe“, sagt Hallauer. Er kannte nicht nur die Handschrift des Kardinals, aus höfischen Rechnungen wusste er, welche Hosen sein Diener trug und dass er Malvasier bevorzugte, einen süßen Wein aus dem Süden. Kein Detail war unwichtig, jeder Schnipsel wurde abgeschrieben oder kopiert, erfasst und einsortiert. Ein Abbild des 15. Jahrhunderts, im Kleinen wie im Großen.

Nun stehen die Zettelkästen in der Berliner Mohrenstraße, neben dem Büro von Thomas Woelki, der gerade seine Dissertation abgeschlossen hat und nun das Projekt übernimmt. Thomas Woelki arbeitet ganz im Zeichen der Berliner Wissenschaftsrepublik. Seine Stelle ist befristet auf eineinhalb Jahre. Geld für die weitere Forschung am Cusanus-Projekt möchte Johannes Helmrath bei der DFG einwerben. Doch so gut sich Thomas Woelki mit den Tücken der wissenschaftlichen Moderne auskennt, er wird das Projekt im Sinne der Tradition weiterführen. Der Geist von Meuthen und Hallauer ist mit umgezogen nach Berlin. „Es ist schlimmer als Münzen oder Briefmarken“, sagt Woelki. „Man freut sich an dem, was man hat. Aber man will immer noch mehr haben.“

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