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Wissen: Schützende Dreckschicht

Gesteinsschutt auf dem Gletscher lässt das Eis langsamer schmelzen

Je schneller die Gletscher schrumpfen, desto wärmer muss es geworden sein – das klingt ziemlich logisch. Und wenn Schmelzwasser unter das Eis dringt, flutscht es leichter. Auch logisch. Doch ganz so einfach liegen die Dinge in der Glaziologie wohl doch nicht. Zwei aktuelle Studien zu den eisigen Strömen im Himalaja und auf Grönland zeigen paradoxe Vorgänge, die einem allzu einfachen Bild widersprechen.

Dirk Scherler und Manfred Strecker von der Universität Potsdam untersuchten mit einem US-Kollegen das Verhalten von Gletschern in der Himalaja-Region. Satellitenbilder zeigten ihnen, wie schnell sich die Eismassen zwischen 2000 und 2008 bewegten. Die meisten Gletscher schrumpften zwar, aber die Forscher fanden auch Exemplare mit stagnierender oder vorstoßender Front, berichten sie online im Fachjournal „Nature Geoscience“. Im Karakorum zum Beispiel – einem Gebirge, das nordwestlich an das eigentliche Himalajagebirge anschließt – trifft dies auf die Hälfte der Gletscher zu. Auch andernorts ziehen sich viele Gletscher nicht zurück. Dies liege teilweise an dem Gesteinsschutt, der von den Talflanken auf das Eis gestürzt sei, erläutert Scherler.

Ist die Oberfläche eines Gletschers von Schutt bedeckt, dann wirkt das wie eine Isolationsschicht, und die warme Luft ringsum kann dem Eis weniger anhaben, als wenn es offen läge. Scherler warnt davor, Längenänderungen von schuttbedeckten Gletschern übereilt in einen Zusammenhang mit der Erderwärmung zu stellen. Stoppt der Eisstrom, bedeute das nicht automatisch, dass die Temperatur konstant geblieben ist.

Schuttbedeckte Gletscher gibt es auch im Kaukasus, in Neuseeland und vereinzelt in den Alpen. Von daher kann die Studie bei der Analyse von Gletschermessungen helfen. Als eine Art Thermometer taugen Eisströme offenkundig nur dann, wenn sie freiliegen und die Schneefälle, die den Eisnachschub sichern, sich nicht gleichzeitig ändern. Auch umgekehrt ist zu beachten: Aus Temperaturabschätzungen für die Zukunft lässt sich nicht ohne Weiteres die Reaktion der Eismassen berechnen.

Eine ähnliche Einschränkung, was die Verbindung zwischen Klimawandel und Gletscherlänge angeht, gilt auch für die großen Eisschilde in der Antarktis und auf Grönland. Mit ihnen ist eines der bedrohlichsten Szenarien der globalen Erwärmung verknüpft: Sickert Schmelzwasser durch Spalten im Eis bis zum Felsgrund hinab, könnte das womöglich das Rutschen der Gletscher beschleunigen. Manche Forscher fürchten, dass der Meeresspiegel deswegen viel schneller ansteigen könnte als erwartet. Konsensfähige Projektionen lassen einen Anstieg um höchstens 80 Zentimeter bis zum Jahr 2100 erwarten, pessimistische Wissenschaftler jedoch halten auch größere Werte von einem Meter und mehr für denkbar. Doch eine Studie von Aud Venke Sundal von der Universität Leeds und Kollegen legt jetzt nahe, dass die Gletscher weniger rutschgefährdet sind als gedacht. Das Eis könnte sich selbst ausbremsen, schreiben die Glaziologen in „Nature“ (Band 469, Seite 521).

Sie haben analysiert, wie grönländische Gletscher auf eine starke Schmelze an der Oberfläche reagieren. Mithilfe von Satellitenbildern deckten sie ein seltsames Verhalten auf: Schmilzt das Eis im Sommer sehr stark, dann ist die Phase, in der die Gletscher schnell vorwärtsrutschen, ungewöhnlich kurz. Anders ist das in Jahren, in denen man wenig Schmelze an der Oberfläche beobachtet, dann dauert die Rutschphase dreimal so lang.

Das irritierende Resultat lässt sich mit Entwässerungsvorgängen unter den Gletschern erklären. Bei starker Schmelze sammeln sich große Wassermengen unter dem Eis, die rasch Drainagekanäle öffnen. Bald fließt das Schmelzwasser wieder ab und die Gleitwirkung lässt nach. Darum wandern die Gletscher über einen ganzen Sommer gesehen in warmen Jahren langsamer als in kühlen Jahren.

Die Wissenschaftler merken allerdings an, dass sie sehr spezielle Schmelzbedingungen im Südwesten Grönlands untersucht hätten, wo die Gletscher auf dem Land endeten. Viele andere Eisströme der Insel münden im Atlantik, und diese könnten sich anderen Studien zufolge auch durch die Erwärmung des Meerwassers beschleunigen. Um präzise Vorhersagen für die Entwicklung des ganzen grönländischen Eisschilds zu entwickeln, müsse man dringend die Entwässerung unter den Gletschern besser verstehen, schreibt das Team. Bis dahin werde die Reaktion der Eisschilde auf die globale Erwärmung schwer zu kalkulieren sein. Für Gebirgsgletscher dürfte wegen des Schutts das Gleiche gelten. Sven Titz

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