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Gut unterrichtet. Hamburg und Schleswig-Holstein haben eine Entwicklungsstrategie, die Berlin noch fehlt, sagt die Schulforscherin Felicitas Thiel von der FU Berlin.

© Imago/Thomas Lesbie

Schule im Test: „Auf den Unterricht kommt es an“

Vor dem neuen Ländervergleich der Grundschulen: Die Schulforscherin Felicitas Thiel erklärt, was Berlin in der Schule verbessern müsste.

Frau Thiel, am Freitag wird der neue Ländervergleich für die Grundschule veröffentlicht. Beim Test vor vier Jahren lagen die Stadtstaaten hinten. Rechnen Sie damit, dass sie jetzt aufgeholt haben?

Ich rechne für die Stadtstaaten mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Hamburg hat die Zeit genutzt, um ein sehr gutes Qualitätsentwicklungssystem aufzubauen. Dazu gehört, dass die Schüler auch im Zeitverlauf getestet werden, so dass die Lehrkräfte ihren Lernfortschritt nachvollziehen und ihre Fördermaßnahmen genau abstimmen können. Ich würde mich also nicht wundern, wenn Hamburg diesmal besser abschneidet.

Ist das schlechte Abschneiden der Stadtstaaten nicht vor allem mit ihren sozialen Problemen zu erklären?

Ganz sicher sind die Bedingungen hier viel schwieriger, das kann man überhaupt nicht wegreden. Und dazu kommt jetzt auch der Umgang mit den neu hinzukommenden geflüchteten Kindern. Man kann aber zwischen den Stadtstaaten durchaus deutliche Unterschiede sehen. Und aus dem letzten Ländervergleich Primarstufe wissen wir, dass Bremen und Berlin deutlich schlechter abschnitten als viele Großstädte mit ähnlichen sozialen Problemen. Das ist schon ein echtes Alarmsignal.

Berlin lag beim letzten Ländervergleich mit Bremen hinten. Hat es dazu gelernt?

Ich lehne mich vielleicht weit aus dem Fenster, aber ich wäre froh, wenn Berlin sich nicht noch weiter verschlechtert hat.

Felicitas Thiel, Professorin für  Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin.
Felicitas Thiel, Professorin für  Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin.

© promo

Was könnte Berlin versäumt haben?

Erfolgreiche Länder stellen den Unterricht in den Mittelpunkt. Denn auf den Unterricht kommt es an, das wissen wir seit langem aus der Forschung. Schleswig-Holsteins Institut für Schulqualität hat zum Beispiel mit Wissenschaftlern einen Rahmen erarbeitet, in dem die Kriterien für guten Unterricht genau beschrieben sind. Die Lehrkräfte in Schleswig-Holstein wissen also sehr genau, welche Stellschrauben sie im Unterricht bewegen müssen. Das halte ich für einen sehr erfolgreichen Weg. Extrem wichtig ist auch eine Lehrerausbildung, in der Sprachförderung und Diagnostik eine große Rolle spielen.

Diagnostik bedeutet, dass die Lehrer erkennen können, wo ihre Schüler beim Lernen Probleme haben. Dann können sie sie punktgenau fördern. Dazu gibt es die Vergleichsarbeiten Vera. Nutzen Berliner Lehrer dieses Instrument nicht gerne?

Es gibt unter Deutschlands Lehrkräften generell sehr starke Vorbehalte gegen die Unterrichtsentwicklung auf der Basis von diagnostischen Tests. Das hängt mit dem traditionellen Selbstverständnis der Lehrkräfte zusammen. Darum ist es wichtig, dass die Arbeit mit diagnostischen Tests schon den Studierenden nahegebracht wird, denn immerhin geht es hier um den Umgang mit heterogenen Lerngruppen. Es ist aber auch wichtig, dass die Lehrerverbände dies unterstützen.

In Berlin evaluieren Schulinspektoren den Unterricht regelmäßig. Die meisten Schulen schneiden ganz gut ab. Ist das nicht ein Widerspruch zu den Ergebnissen der Vergleichstests?

In der Tat ist das ein Widerspruch! Darum müsste dringend überprüft werden, ob die Berliner Schulinspektion überhaupt durchgehend valide Daten liefert. Im letzten Durchgang wurden beim Qualitätsmerkmal „Schulleistungsdaten und Schullaufbahn“ fast 60 Prozent der Schulen der Kategorie „stark ausgeprägt“ zugeordnet und keine einzige der Kategorie „schwach“. Ein anderes Problem ist, dass die Schulinspektion oft Oberflächenmerkmale des Unterrichts beurteilt und nicht die Tiefenstruktur, zum Beispiel die Qualität der Fragen, die Lehrkräfte stellen, und die Konsistenz ihrer Erklärungen. Ich frage mich außerdem, welchen Sinn die flächendeckende Evaluation des Unterrichts aller Lehrkräfte einer Schule macht, aus der anschließend ein Mittelwert für die gesamte Schule gebildet wird.

Neben der Schulinspektion hat Berlin auch noch die Schulaufsicht. Welche Rolle spielt sie bei der Entwicklung der Qualität?

Tja, das frage ich mich auch. Ihre Rolle ist in Berlin nicht wirklich klar. Soll sie nur beraten oder auch kontrollieren, ob etwas wirklich schief läuft? Und auf welcher Grundlage soll die Schulaufsicht mit den Schulen ins Gespräch kommen? Das ist in Hamburg und Brandenburg viel besser geregelt. Dort werden alle Daten zu einer Schule in einem übersichtlichen Format aufbereitet. Auf dieser Grundlage bespricht die Schulaufsicht mit der Schule den Entwicklungsbedarf. Rechenschaftslegung und Unterstützung greifen ineinander. In Berlin werden diese Aspekte häufig als Gegensätze begriffen. Und es herrscht eine gewisse Rollendiffusion zwischen Schulinspektion, Aufsicht und Beratung.

Auch die Schulleitungen sollen den Unterricht ihrer Lehrkräfte beurteilen.

Ja, das ist sehr wirkungsvoll, wie wir aus der Schulforschung wissen. Aber um die Unterrichtsqualität der Lehrkräfte wirklich gut beurteilen zu können, müssten die Schulleitungen auch ganz klare Indikatoren an die Hand bekommen. Die bestehenden Ausführungsvorschriften sind für die Unterrichtsbeurteilung zu allgemein und zielen eben nicht auf die Tiefenstruktur des Unterrichts ab.

Bei der Evaluation kann sich herausstellen, dass Lehrer sich weiterbilden sollten. Können die Lehrkräfte in Berlin auf die richtigen Angebote zurückgreifen?

Den Eindruck habe ich nicht, das sollte evaluiert werden. Das Landesinstitut für Schule und Medien bildet Multiplikatoren aus. Diese Multiplikatoren bieten dann Fortbildungen für Lehrkräfte in den verschiedenen Regionen Berlins an. Böse Zungen sprechen davon, dass es dabei zu einem Stille-Post-Spiel kommt: Auf dem Weg des Weitersagens an die Lehrkräfte geht die Hälfte des Gelernten verloren und – noch schlimmer – Inhalte werden verzerrt weitergereicht. Außerdem konzentriert sich das Angebot auf Schwerpunkte, die zwar ihre Berechtigung haben – man kann zum Beispiel lernen, wie neue Rahmenpläne eingeführt werden. Aber andere entscheidende Themen wie Klassenmanagement oder kompetenzorientierter Unterricht scheinen nicht genug angeboten zu werden. Auch gab es vor ein paar Jahren Hinweise darauf, dass ein Fünftel des Angebots ausfällt. Berlin muss evaluieren, ob das noch heute so ist und das Problem abstellen.

Berlin hat das Studium der Grundschulpädagogik reformiert. Mathematik und Deutsch wurden aufgewertet. Werden die zukünftigen Absolventinnen und Absolventen also deutlich besser gerüstet in die Schule kommen als frühere Kohorten?

Ja, die Reform war absolut richtig. Berlin baut jetzt allerdings massenhaft Studienplätze in Grundschulpädagogik auf, entsprechend wird neues Lehrpersonal eingestellt. Hier sollten die Universitäten wirklich darauf achten, wen sie berufen. Denn das wird Berlins Schulen über Jahrzehnte prägen. Die Studierenden müssen in Sprachförderung und Diagnostik geschult werden und lernen, entlang der Bildungsstandards zu unterrichten. Beruft man nur Personen mit literaturwissenschaftlichem Profil, ist das nicht gut zu leisten. Dasselbe gilt für Mathematik. Hier hat ja Berlin im letzten Ländervergleich besonders schlecht abgeschnitten. Vorbildlich berufen in der Lehrerbildung hat übrigens die Universität Potsdam.

Im Moment stellt Berlin zahlreiche Quereinsteiger an Grundschulen an. Wie gut werden sie auf ihre Aufgabe vorbereitet?

Die Universitäten haben inzwischen sehr gute Studienangebote für Quereinsteiger aufgelegt. Aber die Kapazität reicht nicht für alle. Der Berliner Senat hat darum ein eigenes Programm. Das ist aber leider völlig abgekoppelt von den Unis und ihrer Forschung. Es müsste von unabhängigen Experten evaluiert werden, damit man sieht, ob es den Qualitätskriterien genügt.

Wenn Sie Schulsenatorin von Berlin wären, was würden Sie als erstes verändern?

Ich würde es ähnlich machen wie Hamburg und Schleswig-Holstein. Ich würde eine übergreifende Strategie zur Verbesserung des Unterrichts umsetzen. Dabei wären die Aufgaben der Akteure klar definiert. Und alle Beteiligten hätten ein gemeinsames Verständnis davon, was guter Unterricht ist – auf der Basis der Forschung. In Baden-Württemberg haben alle Akteure nach dem schlechten Abschneiden der Neuntklässler im vergangenen Jahr sehr offen miteinander gesprochen und reflektiert. Seitdem wird nachgesteuert. Auch Berlin sollte es so machen. - Die Fragen stellte Anja Kühne. - Felicitas Thiel ist Professorin für Schulpädagogik und Schulentwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin

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