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Ein Mädchen schiebt ein anderes Mädchen im Rollstuhl.

© picture alliance / dpa

Schwerstbehinderte Kinder: Hauptsache geliebt

Sandra Roth hat ein berührendes Buch über das Leben mit ihrer schwer behinderten Tochter Lotta geschrieben. Sie erlebt ihr Kind als "Lotta Wundertüte", so lautet auch der Titel des Buchs.

Den richtigen Ton treffen: Da fängt’s schon an. „Konnte man das nicht vorher wissen?“ ist so eine Frage, die in den Ohren böse nachhallt. „Das ist doch heute nicht mehr nötig!“ Oder auch der nett gemeinte Satz des Vaters auf dem Spielplatz: „Entschuldigen Sie, dass meine Tochter so starrt. Sie hat so etwas noch nie gesehen.“

So etwas – das ist Lotta, die kleine Tochter der Journalistin Sandra Roth. Schwerstbehindert, blind, unfähig ihren Kopf stabil zu halten, geschweige denn zu sprechen. Sandra Roth hat ein Buch über ihr Leben mit Lotta geschrieben, es heißt „Lotta Wundertüte“ und handelt von einer Familie, die aus der normalen Welt herausgefallen ist. Die anders lebt, anders angeguckt wird und anfängt, anders zu denken. Bevor Lotta kam, kannte die Mutter eines damals zweijährigen Sohnes keine Familien mit behinderten Kindern, sie lebte in einem Vorort von Köln in heiteren bürgerlichen Verhältnissen. Und dann der Einschnitt, das neue Leben und die Frage: „Wie sind wir hierhergekommen?“

Als Sandra Roth im neunten Monat schwanger ist, erfährt sie, dass ihre Tochter an einer seltenen Gefäßfehlbildung leidet, die zu einer mangelhaften Hirndurchblutung führt. Was das genau bedeuten wird, können die Ärzte nicht vorhersagen. Baldiger Tod nach der Geburt? Schwere Behinderung? Nur ein steifes Bein? Es gibt sogar Kinder mit „Malformation der Vena Galeni“, die Abitur machen.

„Lotta ist eine Wundertüte“, sagt ein Arzt. „Man weiß nie, was drin ist.“ Also bleibt Hoffnung. Lotta wird geboren, ein hübsches Baby, das dann aber die Entwicklungsschritte der Gleichaltrigen nicht mitmacht, sondern einen Großteil seines Lebens bei Ärzten, Therapeuten und auf dem Operationstisch verbringt.

Lotta hat schlimme Krämpfe, wird siebenmal operiert

Wohltuend an dem Buch ist die Ehrlichkeit der Autorin, dass sie den richtigen Ton trifft. So sehr sie unter Blicken und Bemerkungen mancher Mitmenschen leidet und sich darüber ärgert: Sie schwingt sich nicht aufs moralische Ross, auf dem sich manche hierzulande eingerichtet haben. Als wäre es eine selbstverständliche, freudig auf sich zu nehmende Pflicht für werdende Eltern, ein absehbar stark behindertes Kind zur Welt zu bringen, als wäre das der einzige moralisch vertretbare Weg. Dabei gibt es durchaus auch moralische Argumente für eine Abtreibung. Einem Lebewesen Schmerzen und Leid zu ersparen, zum Beispiel. Auch Lotta leidet viel, hat schlimme Krämpfe, wird siebenmal operiert und wird von den Medikamenten gegen epileptische Anfälle zeitweilig völlig apathisch.

Sandra Roth gibt zu, dass sie, wenn sie frühzeitig von der Behinderung erfahren hätte, möglicherweise auch abgetrieben hätte. Sie beschreibt auch ihre eigenen Anflüge von Unduldsamkeit und Realitätsverzerrung. Etwa wenn sie sich mit der Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom über andere Eltern aufregt, die nachlässig mit ihrem Nachwuchs umgehen („Wir verhängen sofort die Höchststrafe: die verdient kein gesundes Kind!“). Wenn sie in die Rolle der „Heiligen“ abgleitet: „Auch ein behindertes Kind kann ein Statussymbol sein. Ich guter Mensch.“ Oder wenn sie anderen Menschen zu Unrecht Hartherzigkeit und Gedankenlosigkeit unterstellt, nur weil sie nicht auf Anhieb den richtigen Ton, den richtigen Blick finden.

Ihre Behinderung ist nur eine Eigenschaft unter vielen

Statt Vorwürfe zu erheben und Moral zu predigen, stellt Sandra Roth viele, viele Fragen: an sich selbst, an die Leser. Diese Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt, sind es, die zum Nachdenken anregen. Und sie erzählt auch von positiven Erfahrungen. Etwa mit Frau Kniep: „Bei ihr ist Lotta nicht in erster Linie ein behindertes Kind. Lotta ist Lotta. Ein Schmoller, ein Schlawiner, Lotta Wundertüte. Sie ist blond, zickig, süß, zäh, zu dünn, behindert. Ihre Behinderung ist eine Eigenschaft unter vielen. Man darf auch einem behinderten Mädchen sagen: Na, du bist ja eine Süße. Warum auch nicht?“ Roth selbst findet dafür die Formel: Es sollte nicht „Hauptsache gesund!“ heißen, sondern „Hauptsache geliebt!“

Der Bruder sagt: Lotta kann gut zuhören und Alpträume verjagen

Im Laufe des Buchs gewinnt auch der Leser Lotta lieb, freut sich, als sie zum ersten Mal lacht – und fühlt den Schmerz der Eltern mit, die erkennen müssen: Dieses Lachen war ein einmaliger Moment, es kam aus heiterem Himmel und kommt (vorerst) nicht wieder. Lotta kann lächeln, lachen nicht. Aber was ein Mensch kann oder nicht kann, ist eine Frage des Blickwinkels. Am schönsten sagt das der um zwei Jahre ältere Bruder Ben: „Schmusen kann sie toll! Und gut zuhören. Geheimnisse nicht weitersagen, Alpträume verjagen. Im Geheimen kann Lotta alles. Krabbeln, Mama sagen, richtig sehen.“ Die Ärztin vom medizinischen Dienst dagegen, gekommen, um den Pflegebedarf festzustellen, setzt ihr Kreuzchen notgedrungen dort, wo es hingehört: „Was kann sie denn? Greifen? Sitzen? Krabbeln? Aha. Also nichts.“ Pflegestufe drei: 100 Prozent schwerbehindert.

Ein Platz in der Regelkita - aber was ist, wenn sie in die Schule kommt?

Sandra Roth hat ein kluges, berührendes Buch geschrieben, aus dem jeder seine eigenen Schlüsse ziehen kann: über die Abtreibung behinderten Lebens oder auch über Inklusion. Die Autorin empfindet es zuerst als durchaus zwiespältig, dass der einzige heilpädagogische Kindergarten in der Umgebung im Zuge der Inklusionsbestrebungen geschlossen wird. Lotta findet einen Platz in einem Regelkindergarten mit einer sehr engagierten Leiterin. Das scheint ideal. Über Inklusion in der Schule ist damit aber noch nichts gesagt, denn Lotta ist zum Ende des Buchs erst drei Jahre alt.

Man kann sie sich schwer in einer Regelschule vorstellen – aber wer weiß? Die Momente, wenn ihr nicht behinderter Kindergartenfreund Kofi sie im Buggy umherschiebt, ihr ein Sandkissen baut und auf sie einredet – „oi, oi, oi“ macht Lotta und reißt die Augen auf, ihre ersten Laute – sind schön. Solche Momente kann es auch in einer Schule geben, wenn sie denn räumlich und personell entsprechend aufgestellt ist.

Eins jedenfalls ist sicher: Wenn zumindest in allen Kindergärten behinderte Kinder selbstverständlich dazugehören würden, würde es den Nichtbehinderten leichter fallen, den richtigen Ton und Umgang zu finden. So lange das nicht der Fall ist, bleibt nur, Bücher wie das von Sandra Roth zu lesen.

Sandra Roth: Lotta Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und Rollstuhl. Kiepenheuer & Witsch Verlag Köln, 2013. 265 Seiten, 18,99 Euro.

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