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Seilbahnen: Wovon alles abhängt

Stuttgarter Forscher suchen die umfassende Seilformel. Sie entwickeln Roboter, die nach Rissen fahnden.

Wenn es für einen allein zu schwer wird, ist es besser, alle ziehen an einem Strang. Unter gefährlichen Umständen tanzen wir auf dem Seil und in kniffligen Situationen muss man den Gordischen Knoten durchschlagen – das Seil begleitet uns im täglichen Sprachgebrauch. Darüber hinaus leistet der Strang aber noch mehr: Er sichert Bergsteiger, hält Fahrstühle, hebt riesige Gewichte, zieht Segelflieger in die Luft und trägt Touristen in Gondeln an ihr Ausflugsziel.

Während dieser vielseitigen Dienstzeit macht das Seil viele Strapazen durch. Es wird eng zusammengerollt, schlagartig gestreckt, schwillt an, reibt an Metallträgern und rostet. Um Sicherheit zu gewährleisten, entwickeln Forscher an der Universität Stuttgart ein optisches Kontrollsystem, das mit vier Kameras und einem Computer äußerliche Schwachstellen im Seil automatisch erkennt.

Dieser Arbeitsschritt muss sonst von einem Ingenieur durchgeführt werden, an dem das Seil vorbeifährt. Der Kontrolleur muss zwar dafür viel Zeit aufwenden, doch er hat gegenüber der Technik einen entscheidenden Vorteil: Was das menschliche Auge schnell als Riss oder rostige Stelle identifizieren kann, fällt einem Computer sehr schwer. „Daher müssen wir dem Rechner erst beibringen, wie er gefährliche Stellen von alleine erkennt“, sagt Sven Winter, der die Seilforschung in Stuttgart leitet.

Bei der Überwachung von Seilen muss man das Innere prüfen. Dazu hangelt sich der am Institut entwickelte kleine Wagen „Stuttgart IV plus“ am Seil entlang, schickt Storm durch die Metalldrähte und spürt mit einer Spule verräterische elektromagnetische Störungen auf.

Allerdings darf es in der Praxis gar nicht erst zum Schaden kommen, um folgenreiche Unfälle wie beispielsweise den Absturz von Seilgondeln zu vermeiden. So arbeiten die Stuttgarter Ingenieure emsig an der Verbesserung der Seile. Um etwa Segelflugzeuge in die Luft zu ziehen, haben sie spezielle Fasern aus Aramid entwickelt. Diese neuen Kunststoffseile sind sehr reißfest und superleicht. Andererseits können sie bereits mit einer kleinen Nagelschere durchgeschnitten werden. In scharfkantigen Aufzugschächten oder am Kranarm haben sie daher nichts verloren.

Seile müssen für die jeweilige Anwendung maßgeschneidert werden. „Ein Seil für alle Lebenslagen gibt es nicht“, erzählt Winter. Um die unterschiedlichen Anforderungen zu erfüllen, muss beispielsweise auch das altbewährte Eisen weiter seine Dienste tun. Das Metall wird vorzugsweise in Seilen eingesetzt, wenn es grob wird, bei Aufzügen, Brücken etwa oder bei großen Maschinen auf hoher See.

Um die Belastbarkeit der Seile abzuschätzen, setzen die Stuttgarter Wissenschaftler nicht nur auf Erfahrungswerte, sie haben sich auch eine Reihe von Experimenten ausgedacht. In einer großen Halle des Instituts für Fördertechnik und Logistik malträtiert ein ganzer Maschinenpark die Seile, oft über Wochen hinweg. In der Biegemaschine laufen Seile unentwegt über eine Scheibe, werden gestreckt und gebogen. Bei der Zerreißprobe zerrt ein Zylinder an dem Seil, bis es mit einem Donnerschlag zerfetzt wird. „All diese Experimente liefern die Grundlagen für unsere theoretischen Beschreibungen, die allerdings nur im kleinen Maßstab funktionieren“, erklärt Maschinenbauer Winter. Die Suche nach der großen Seilformel geht also weiter.

Der Durchmesser, die unterschiedlichen Komponenten, ihre Anordnung und Dicke – all diese Parameter verändern die Eigenschaften eines Seiles. Bisher gibt es noch keine umfassende Theorie. So lässt sich nicht vorausberechnen, wann sich welches Seil letztendlich mit einem Knall verabschiedet. „Das Seil ist ein abstraktes Modell, das sehr schwer berechenbar ist“, sagt Winter. Er spricht vom „fast mystischen Charme“, den Seile auf ihn ausüben.

Jedes einzelne Experiment führt ein Stück näher an die umfassende Seiltheorie. Daran ist besonders die Industrie interessiert. So finanzieren europäische Großunternehmen auch viele Versuche. Auch Organisationen wie die Forschungsvereinigung der Arbeitsgemeinschaft der Eisen und Metall Verarbeitenden Industrie e.V. oder die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützen die Versuche. Die Stuttgarter Forscher erstellen einen Katalog, der den Unternehmen Parameter und Erfahrungswerte an die Hand gibt. Die Auftraggeber wollen beispielsweise wissen, wo welches Seil eingesetzt werden kann oder wie oft eine Überprüfung notwendig ist.

Die zwölf Mitarbeiter der Arbeitsgruppe haben also viel zu testen. Sie sind bei ihrer Forschung europaweit führend. „Wir arbeiten als einzige Einrichtung so umfassend und intensiv in der Seiltechnologie“, erklärt Ingenieur Winter.

Natürlich darf bei der praktischen Anwendung die Lebenszeit von Seilen nie vollkommen ausgereizt werden. Es sollte nie bis zum Ernstfall kommen, an dem das Seil ermüdet oder sogar „ablebt“, wie es die Forscher ausdrücken. Die Experimente der Stuttgarter Ingenieure helfen, die Sicherheit zu erhöhen und Kosten für die Wartung zu sparen. Bis allerdings eine umfassende Seilformel gefunden ist, müssen noch viele Meter Seil in der Halle des Stuttgarter Instituts mit lautem Knall für neues Wissen sorgen.

Stephan Struve

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