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Welle aus dem Untergrund. Seismogramme zeigen Schwingungen der Erde.

© dapd

Seismologie: Sturm über dem Ozean erlaubt einen Blick unters Festland

Meereswellen führen zu schwachen Schwingungen der Erde. Das „Brummen“ nutzen Geowissenschaftler, um den Untergrund zu kartieren.

Hühnerei, Pfirsich, Apfel – um den schalenartigen Aufbau der Erde verständlich zu machen, werden viele Beispiele aus dem Alltag herangezogen. Grob vereinfacht besteht unser Planet aus der dünnen Erdkruste, gefolgt vom Erdmantel und tief drinnen dem Erdkern. Doch woher wollen das Geoforscher so genau wissen? Die tiefste Bohrung mit zwölf Kilometern Tiefe ist kaum mehr als ein Kratzen an der kalkigen Schale des erwähnten Hühnereis.

Die Wissenschaftler stützen sich auf seismische Wellen, die von starken Erdbeben in alle Richtungen abgestrahlt werden, auch nach unten ins Erdinnere. An Grenzlinien, wo sich die Zusammensetzung der Erde spürbar ändert, werden die Wellen teilweise reflektiert und wieder zur Erdoberfläche abgestrahlt. Dort werden sie von Seismographen detektiert. Aus einer Vielzahl von Wellen, die zu unterschiedlichen Zeiten beim Empfänger eintreffen, können Geophysiker errechnen, in welcher Tiefe die markanten Grenzschichten liegen.

Diese Methode funktioniert aber nur in erdbebenträchtigen Gebieten recht gut, weil dort häufiger starke Wellen durch den Untergrund jagen. In Zukunft könnte der Blick nach unten auch ohne Beben und vor allem zu jeder Zeit gelingen – allein durch kleine Schwingungen, die ständig vorhanden sind. Davon berichtet nun ein Team um Piero Poli von der Universität Grenoble im Fachblatt „Science“.

„Diese Hintergrundschwingungen entstehen beispielsweise durch die Dünung im offenen Meer“, sagt Rudolf Widmer-Schnidrig, Geophysiker an der Universität Stuttgart. Unter jedem Wellenberg ist der Wasserdruck am Meeresgrund etwas höher als unter einem Wellental; dieses Druckfeld erzeugt seismische Wellen. Das Gleiche geschieht, wenn große Wellen an die Küste schlagen. Beides regt den Untergrund zum Schwingen an. Schon länger bekannt sind Oberflächenwellen, bei denen der Untergrund wie eine Wasserwelle vertikal bewegt wird. Die Auslenkung ist aber sehr klein, um höchstens 0,1 Millimeter pendelt der Boden nach oben und unten, die Periodendauer beträgt rund sieben Sekunden. „Das merkt man als Mensch überhaupt nicht“, sagt Widmer-Schnidrig. Seismometer hingegen registrieren die Wellen schon.

Die Schweizer hätten den Effekt während des zweiten Weltkriegs zur Wettervorhersage genutzt, erzählt der Forscher: Wühlte ein Sturmtief den Ostatlantik auf, zuckten im isolierten Alpenland die Zeiger der Messgeräte. „Da seismische Wellen rund 300-mal schneller sind als ein heranziehendes Tiefdruckgebiet, wusste man also schon einige Zeit vorher, was wettermäßig droht.“

Stürme über dem Wasser können aber auch eine andere Form seismischer Wellen anregen. Diese „Raumwellen“ bleiben nicht an der Oberfläche, sondern gehen mitten durch den Erdkörper. Sie können sich über tausende Kilometer ausbreiten, bevor sie vom Gestein so weit gedämpft werden, dass sie nicht mehr nachweisbar sind. Da es ständig irgendwo Stürme gibt, ist der Planet stets angeregt – wie eine gewaltige Glocke, die von allen Seiten mit kleinen Klöppeln traktiert wird.

Dieses „Brummen der Erde“, das viel zu tief ist, als dass man es tatsächlich hören könnte, haben die Forscher um Poli genutzt, um den Untergrund zu kartieren. Sie analysierten Daten von 42 seismischen Messstationen in Nordfinnland, die von Januar bis Dezember 2008 gesammelt wurden.

Die Wissenschaftler wendeten ein Array-Verfahren an, das auch Radioastronomen nutzen. Es basiert auf dem Umstand, dass ein Signal umso später bei einer Messstation eintrifft, je weiter diese von der Quelle entfernt ist. Tobt beispielsweise ein Sturm bei Island, sollte ein Seismometer in Westfinnland eher ausschlagen als einer im Osten des Landes. Nun steht an den detektierten Wellen aber nicht dran, woher sie kommen. Doch genau das müssen die Forscher wissen, um einen Fixpunkt für ihre Interpretationen zu haben. Polis Team hat über ein Computerprogramm die Messkurven mehrerer Stationen solange auf einer Zeitachse hin- und hergeschoben, bis sie gut übereinanderpassten. So erhielten sie eine Zeitdifferenz, aus der sie den Ursprungsort der seismischen Wellen bestimmen konnten – und aus der Gestalt der Linien etwas über den Aufbau des Untergrunds.

In der Messzeit über zwölf Monate gab es viele Stürme in unterschiedlichen Gegenden. So wurde der finnische Untergrund aus verschiedenen Richtungen mittels seismischer Wellen „beleuchtet“. Das Ergebnis ist ein dreidimensionales Bild der Erdschichten. Wie die Wissenschaftler schreiben, konnten sie die Übergangszone zwischen dem oberen und dem unteren Erdmantel bei 410 bis 660 Kilometern Tiefe identifizieren.

„Ein wichtiger Schritt nach vorn“, findet Widmer-Schnidrig. Allerdings seien die Voraussetzungen in Skandinavien, wo es viel festen Fels gibt, auch besonders gut gewesen. „In Norddeutschland, wo dicke Sedimentschichten die seismischen Wellen stark dämpfen, würde das Verfahren derzeit kaum funktionieren.“ Vielleicht gelingt das in ein paar Jahren, wenn die Technik ausgefeilter ist.

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