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Studierende beim einem Tanzkurs in einer Sporthalle.

© picture alliance / dpa

Semesterstart in Berlin: Wie Studierende ticken

Die Studierenden sind heute unselbstständiger als früher, wird behauptet. Stimmt das? Und wenn ja: Woran könnte es liegen? Eine Campus-Umfrage.

Die 68er-Generation gilt als rebellisch, die danach geborene „Generation X“ als ehrgeizig. Und die Studierenden von heute? Glaubt man einem kürzlich erschienenen Buch der Bonner Lehrbeauftragten Christiane Florin, sind sie vor allem unselbstständig: Florin beklagt, die Studierenden von heute hätten das eigenständige Arbeiten verlernt. Dozenten müssten für sie vor allem Animateure und Erzieher sein, und statt gegen den verschulten Bachelor zu rebellieren, forderten sie noch genauere Anweisungen ein. Bildungsforscher Klaus Hurrelmann sieht das anders. Die „Generation Y“ sei nicht angepasst, sondern „ergebnisorientiert“. Geschickt schlängele sie sich durch den Dschungel der Vorgaben und revolutioniere so Bildung und Arbeit.

Was denken die Studierenden selbst über diese Behauptungen? Ist ihnen das selbstständige Arbeiten fremd geworden oder brauchen sie mehr Freiräume? Was denken ihre Dozenten über sie? Wir haben uns an der Uni umgehört.

Parima Parsipour, 22, studiert im 3. Bachelor-Semester Biologie an der HU

Viele Studierende versuchen zwar, ihr Studium selbstständig zu gestalten – aber die meisten hören damit wieder auf, wenn sie merken, dass es negativ sanktioniert wird. Das ist nicht verwunderlich: Wenn man zum Beispiel außerplanmäßige Veranstaltungen besucht, die man interessant findet, erntet man entsetzte Blicke der Kommilitonen und Dozenten. Und man bekommt keine Leistungspunkte, das zieht das Studium in die Länge. Besonders für Studierende, die Bafög beziehen, ist das fatal.

Parima Parsipour.
Parima Parsipour.

© Luisa Hommerich

Zudem ist eine selbstständige Organisation des Bachelor-Studiums bürokratisch sehr kompliziert. Ich finde es deswegen verständlich, wenn einige sehr viele organisatorische statt inhaltliche Fragen stellen – sie haben eben Angst, irgendetwas nicht mitzubekommen. Wir müssen ja auch noch jedes Semester aufs Neue den Stoff für etwa acht Klausuren auswendig lernen, auch wenn davon danach im Kopf nichts mehr haften bleibt. Wenn man sich da nicht anpasst, gilt man als nicht leistungsstark. Ich glaube auch, dass die Digitalisierung dazu beigetragen hat, dass unsere Generation unselbstständiger geworden ist. Durch Smartphones und Laptops haben wir einen besseren Zugang zu Informationen. Aber wir müssen uns auch weniger um sie bemühen, also kaum mehr selbstständig recherchieren. Ich wünsche mir, dass wir Studierenden uns weniger von Sanktionen einschüchtern lassen und wieder so studieren, wie es uns selbst geistig weiterbringt.

"Der Druck kommt von den Eltern, aber auch von uns selbst"

Merveille Mubakemeschi, 23, studiert im 7. Hochschul-, und 5. Bachelor-Fachsemester Politikwissenschaft an der FU, weil sie ein Jahr lang an der UC Berkeley studierte

Wir Studierenden müssen aufpassen, uns nicht allzu sehr vom Effizienzdiskurs vereinnahmen zu lassen, der seit einigen Jahren wieder stärker in die Unis eindringt. Der Vorwurf der Unselbstständigkeit trifft uns dabei doppelt. Wenn wir durchs Studium kommen wollen und die Pflichtseminare absitzen, gelten wir als unselbstständig im Denken. Aber wenn wir die Pflichtseminare sausen lassen und unseren eigenen Interessen folgen, wenn wir uns Zeit nehmen, um theoretische Grundlagen zu verstehen, um unangenehme Fragen zu stellen und uns politisch austauschen – dann heißt es schnell, wir würden unser Studium organisatorisch nicht selbstständig hinbekommen und nicht anpassungsfähig genug sein.

Merveille Mubakemeschi.
Merveille Mubakemeschi.

© Luisa Hommerich

Dann wird schnell die Angst geschürt, bei zu langer Studienzeit Schulden machen zu müssen oder nicht eingestellt zu werden. Der Druck kommt dabei von der Gesellschaft, von den eigenen Eltern, aber auch von uns selbst. Zum Teil ist dieser Druck auch tatsächlich real. Und wenn es viele uninteressante Pflichtseminare gibt, kann man natürlich nicht in jedem begeistert mitdiskutieren. Aber man findet auch im repressivsten Studium immer Nischen, in denen man den eigenen Interessen folgen, sich wissenschaftlich ausprobieren und auf die Suche nach eigenen Standpunkten begeben kann.

Marc-Steffen Zwisele, 24, studiert im 3. Master-Semester Mathematik an der TU

In dem Elektrotechnik-Tutorium, das ich leite, habe ich festgestellt: Die Klausuren der Studierenden werden wirklich besser, wenn man ihnen im Semester mehr Vorgaben gibt und deren Einhaltung strenger kontrolliert. Viele können sich nicht mehr selbst motivieren, wenn sie zu viel Freiraum bekommen. Diese Haltung ist zwar bedauerlich, man kann sie uns Studierenden aber schlecht vorwerfen. Wir sind Freiräume nicht mehr gewohnt, eigenständiges Lernen wurde uns durch Anwesenheitspflichten und strenge Studienverlaufspläne gezielt aberzogen. Und nun beschwert man sich über mangelnde Selbstständigkeit – das ist widersprüchlich.

Marc-Steffen Zwisele.
Marc-Steffen Zwisele.

© Luisa Hommerich

Dass meine Generation trotz der vielen Einschränkungen nicht starr auf Karriere gepolt ist, finde ich bewundernswert. Scheinbar haben viele von uns erkannt, dass erfüllende Erlebnisse langfristiger glücklich machen als viel Geld. Auch ich würde später gerne halbtags arbeiten, auch, wenn ich dafür weniger Gehalt bekomme. Unsere Prestige-Objekte sind eben nicht mehr materielle Dinge, sondern Aspekte der eigenen Lebensgestaltung. Ich finde, es ist auch eine berechtigte Erwartungshaltung, dass sich der Arbeitsmarkt zu unseren Gunsten ändern sollte. Wir wollen eben mehr Zeit für uns, unsere Freunde und Familien – und ich finde nicht, dass man uns deswegen als „Egotaktiker“ bezeichnen kann.

"Wer effizienter mit Zeit umgeht, ist erfolgreicher"

Manuela Boatca, 39, Professorin für Soziologie am Lateinamerika-Institut der FU

An der Selbstständigkeit der heutigen Studierenden hat sich meiner Meinung nach im Vergleich zu früher nichts geändert. Die Struktur von Bachelor- und Masterstudium schränkt ihren Gestaltungsspielraum zwar ein. Diejenigen, die effizienter mit Zeit und anderen Ressourcen umgehen können, sind nun erfolgreicher. Die Selbstständigkeit leidet aber bei den meisten nicht darunter. Das merke ich daran, dass die Studierenden höchst dankbar sind, wenn man ihnen Raum gibt, das Gelernte selbstständig zu reflektieren. Viele überraschen mich auch positiv mit Hinweisen auf interessante Veranstaltungen, die wir Dozentinnen und Dozenten noch gar nicht kannten – beispielsweise zu Themen wie Rassismus oder Migration.

Manuela Boatca.
Manuela Boatca.

© Privat

Manchmal stellt sich dann heraus, dass sie diese sogar selbst organisiert haben. Auch bei den Abschlussarbeiten gehen die meisten sehr selbstständig vor. Ihre Betreuerinnen und Betreuer wählen sie nicht nur mit Blick auf deren Notengebung und Verfügbarkeit aus, sondern auch abhängig davon, wie kritisch oder kompetent sie sie finden. Manchmal wählen sie als Zweitgutachterin oder Zweitgutachter sogar jemanden von einer anderen Universität, was großen zusätzlichen Aufwand bedeutet. Viel selbstständiger als das geht es fast nicht.

Natürlich gilt das nicht für alle Studierenden. Doch es fordern immer noch genug selbstständige, politisch interessierte und aktive Studierende ihre eigenen Interessen ein – für sich selbst und manchmal für den gesamten Jahrgang.

Steffen Martus, 46, Professor für Neuere deutsche Literatur an der HU

Es gibt viele Meinungen, Urteile und vor allem Vorurteile über die Studierenden. Aber offen gesagt: Wir wissen sehr wenig über sie. Was meinen wir eigentlich, wenn wir uns fragen, wie selbstständig sie sind? Zunächst einmal, dass sie ohne Druck, Zwang und großen Beratungsbedarf ihre Aufgabe erledigen. Anstatt ins Lamento über die Kundenmentalität der Generation Y einzustimmen, sollte man sich daher klarmachen, was diese leistet, wenn sie an die Uni kommt. Sie muss den Sprung schaffen von einer Jugendwelt, die wesentlich digital organisiert ist, zu einer neuen Lehr-Lern-Umgebung, die aus guten Gründen und sehr erfolgreich noch ziemlich analog arbeitet. Sie muss auch verarbeiten, dass sie aus Schulen entlassen wird, deren Bildungsvorstellungen sich von denen der Universität immer weiter entfernen.

Steffen Martus.
Steffen Martus.

© Promo

Es ist bewundernswert, wie diese Vermittlungsleistung fast allen Studierenden selbstständig gelingt, und wie sie sich dann auch noch im Organisationsdschungel der bachelorisierten Studiengänge zurechtfinden. Zu beklagen wäre allenfalls, dass der Selbstständigkeitsdrang, den fast alle lernenden, lehrenden und forschenden Mitglieder der Universität verspüren, vom Universitätsbetrieb blockiert wird.

"Ihre Vorträge sind deutlich aktivierender geworden"

Ulf Schrader, 46, Professor für Arbeitslehre/Ökonomie und Nachhaltigen Konsum an der TU

Eine der zentralen Entwicklungen, die ich seit meiner eigenen Studienzeit (1990–95) beobachte, ist, dass fast alle Studierenden ihren Lebensunterhalt heute zu großen Teilen selbst bestreiten. Ich dagegen habe mich bis zum Vordiplom fast komplett von meinen Eltern „aushalten“ lassen – und ich war da unter Kommilitonen in bester Gesellschaft. Ich habe auch den Eindruck, dass es den Studierenden heute viel leichter als früher fällt, sich selbst und ein Thema zu präsentieren. Ihre Vorträge sind deutlich lebendiger und aktivierender geworden, und das liegt nicht nur an der Möglichkeit, Youtube-Filme einzubinden. Diese Entwicklungen sprechen für eine hohe Selbstständigkeit.

Ulf Schrader.
Ulf Schrader.

© TU Berlin

Natürlich ist aber der Prüfungsaufwand durch Bachelor und Master stark gestiegen. In meinem Wirtschaftsstudium habe ich insgesamt weniger Hausarbeiten geschrieben als viele meiner Studierenden jedes Semester abgeben müssen. Deswegen betreiben sie das Studium dort engagiert, wo sie es als sinnvoll wahrnehmen. Dort, wo es nur als Pflicht gesehen wird, versuchen sie, ihren Aufwand zu minimieren – was zeigt, dass sie das ökonomische Prinzip verstanden haben. Doch schon zu meiner Studienzeit wurden Dozenten, die ihren Stoff lustlos abspulten, mit Papierflugzeugen beworfen, man döste ein oder blieb gleich ganz zu Hause. Das heißt nicht, dass Dozenten „Animateure“ sein sollten. Doch der Versuch, den eigenen Studierenden Begeisterung für Inhalte zu vermitteln, hat sich schon immer gelohnt.

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