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Werde, der du bist. Bildung schult den Charakter: Dafür steht auch Robin Williams als Lehrer im Film „Club der toten Dichter“. Allerdings setzt sich heute immer mehr die Lernweise asiatischer Länder durch, die funktionale Gesellschaftsmitglieder entwickeln will.

© CINETEXT

Serie "Identitäten" - fünfte Folge: Jeder sein eigener Gott

Pisa-Studie, Bachelor und die Folgen: Das alte Ideal vom unverwechselbaren Individuum ist in Gefahr, meint der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen im fünften Teil unserer Serie.

Nach meinem Wechsel von der Leitung der FU in das Präsidentenamt der Universität Hamburg werde ich gelegentlich gefragt, ob ich ein anderer geworden sei, da ich doch jetzt auf Seiten der Studenten für ihre akademische Zukunft eintrete. Abgesehen davon, dass hier ein falscher Gegensatz aufgemacht wird, weil es epochal ganz verschiedene Formen gibt, für die nachwachsende Generation einzutreten, verrät die Frage eine Irritation. Jemand ist nicht mehr derselbe, ist er noch identisch mit dem, den wir kannten?

Identität dient also offenbar den jeweils anderen, sich zurechtzufinden mit uns, Sicherheit zu schaffen. Auch werden wir so leichter zum Objekt von Zuschreibungen. Wir sind stark oder schwach, gerecht oder ungerecht, gut oder böse. Identität, dieses soziale Konstrukt, wird gebraucht von Seelsorgern und Kriminalbeamten, von Psychiatern und Pädagogen.

Nur um eine mit sich identische Seele kann sich der Pfarrer kümmern, wenn er deren Sünden vergibt und nicht die eines anderen. Der Kripobeamte kann sich von einem Straftäter nicht sagen lassen, der Diebstahl sei gestern von einem anderen in demselben Körper begangen worden. Der Psychiater taucht mit dem Patienten in diese eine Lebensgeschichte ein. Und Pädagogen sorgen dafür, dass bei den Jugendlichen überhaupt eine Identität entsteht. Das war nicht immer so und ist auch nicht in jeder Kultur der Fall.

Neben einigen antiken Spuren ist das Christentum für das heute im Globalisierungsprozess sich verflüchtigende Identitätsdenken konstitutiv gewesen. Da läuft ein Wanderprediger namens Jesus umher und behauptet, er sei Gott. Arme und Kranke sind beeindruckt. Die Sachwalter der Überlieferung, die Schriftgelehrten, sind dagegen alles andere als amüsiert. Schon als Zwölfjähriger geht dieser Jesus ihnen auf die Nerven, ihnen, die sie wissen, dass es nur eine heilige Identität gibt: Gott selbst, und er steht nicht vor ihnen, sondern in ihren Büchern. Jesus zieht es vor, sich als dessen Sohn zu bezeichnen, rettet die Identitätsidee und verstärkt sie noch. Vater und Sohn seien ein und dasselbe, die Grundlage für das spätere Dreieinigkeitsdenken.

Augustinus wird sich ein paar Jahrhunderte später zu dem Satz versteigen: „Ich wäre also nicht, mein Gott, wärest du nicht in mir.“ Hier öffnet sich der Weg zu einem Denken, dass das Abendland nicht mehr loslassen wird. Jeder von uns ist gewissermaßen Gott: erstens, weil nach dem Bilde Gottes geschaffen (Imago Dei). Und zweitens, wenn wir den Heilsweg Christi (nach) zu gehen uns bemühen (Imitatio Christi).

Das bedeutet, Identität ist uns gegeben. Sie muss allerdings durch unser Handeln stets abgesichert werden, denn wir tendieren dazu, uns in der Sünde zu verlieren. Wir Abendländer haben also gelernt, uns in Irritationen unserer Identität zu bewähren, in dem wir sie selbst infrage stellen. Mit dem Konstrukt der Sünde haben wir uns eine Art Doppelbewegung verschafft. Wir müssen uns anpassen an wechselnde Herausforderungen. Wenn wir das können, haben wir, historisch gesehen, gute Chancen erfolgreich zu sein.

Unsere Kultur rettet das Identitätsdenken über die Säkularisierung hinweg bis ins 20. Jahrhundert. Mit der Aufklärung wird der Heilsweg durch ein interessantes neues Konstrukt ersetzt: Bildung. In seinem Bemühen dem Bilde Gottes (Bildung!) zu entsprechen und zu sich selbst zu kommen, bildet der Mensch sich unter Anleitung seiner Lehrer selbst, denn er ist immer schon mit sich identisch und muss nur zu sich gelangen. Goethe hat das in dem genialen Satz zusammengefasst: „Werde, der du bist.“

Klar, dass das eine Steilvorlage für die europäische Pädagogik ist. Der Lehrer tritt an die Stelle des Priesters und überwacht den Bildungsprozess, steuert ihn und hat jede denkbare Legitimation dafür. Denn es geht ja um nicht weniger als um das Ebenbild Gottes. Da muss man schon streng sein und darf zuschlagen. Man muss es sogar, denn wer wollte schon verantworten, dass der Zögling von der Sünde zerfressen wird, die schon früh zur Erbsünde erklärt wird, so dass schon an den Kleinen reichlich zu tun ist. So wird dekretiert, dass das kleine Kind zunächst eine Identität (mit den Eltern) besitze. Die verliert es dann, um in der Pubertät eine neue aufzubauen, die für solche Gesellschaften produktiv wird, die auf Fortschritt und Wachstum setzen.

Genau genommen ist der Lebensprozess nichts anderes, als eine Identitätsbalance zu halten, gefeit gegen Irritationen jeder Art, durch Standfestigkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaßen. Daraus resultiert eine scheinbare Überlegenheit der „Western societies“ gegenüber anderen Kulturen, zumindest solange Expansion die Maxime dieser Art von Gesellschaft ist.

Das gilt aber eben nicht für außerchristliche Kulturen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein: Für Stammesgesellschaften nicht, soweit sie Verwandtschaft zur organisierenden Kategorie machen. Auch für viele asiatische Gesellschaften gilt es nicht, soweit sie nicht monotheistisch denken und sich, wie Japan, über tausend Jahre erfolgreich abschotten. Deswegen ist es noch heute in Japan schwierig, eine blühende psychoanalytische Praxis zu betreiben. Der Gedanke einer persönlichen seelsorgerischen Beziehung ist fremd. Kriminalität nicht das erste Problem einer Gesellschaft, die vor einer Verfehlung lieber die Augen schließt, um die Harmonie („Wa“) nicht zu stören. Erziehung hat dort absolut nicht die Funktion, eine unverwechselbare Identität des jungen Menschen herauszubilden. Durch rigorose Anpassung an die gesellschaftlichen Normen und durch härtestes Lernen werden vielmehr funktionale Gesellschaftsmitglieder entwickelt.

Diese Praxis findet sich in vielen asiatischen Ländern wie China oder Korea, weswegen diese in Pisa-Tests bestens abschneiden. Die Tests verstehen sich eben nicht als Untersuchung der Persönlichkeit, sondern als Kompetenzmessung, die weltweit auf die gleichen Lernziele zurückgreifen müssen. Allein testbare Lernziele erscheinen sinnvoll. So hat sich die asiatische Lehr-Lern-Weise auch in Deutschland durchgesetzt, sekundiert von Erscheinungen wie dem Bologna-Prozess in den Hochschulen, der sich um die charakterliche Reifung der nachwachsenden Generation wenig schert, geschweige denn um deren musisch-ästhetisch-moralische Erziehung. Wir riskieren gegenwärtig, genau jene Kategorie der Bildung über Bord zu werfen, die das alteuropäische Denken so human und trotz aller Rückschläge im Hinblick auf die Menschenrechte wirksam gemacht hat.

Aber ist die Identität der Person noch eine Zielkategorie, die eine bessere Welt erwarten lässt? – Ich selbst bin in den letzten 20, 30 Jahren hinsichtlich dieser Chancen skeptisch geworden. Es steht die Frage im Raum, ob ein als solches durchsichtiges historisches Konstrukt seine Wirksamkeit noch entfalten kann. Wenn wir aber annehmen wollen, dass eine humane Welt ohne Status und Übervorteilung ein sinnvolles Ziel bleibt, dann benötigen wir die Vorstellung von Menschen, die durch Menschenerziehung fähig und bereit sind, auf Vorteile, Macht und Privilegien zu verzichten.

Umgekehrt benötigt unsere Gesellschaft Menschen, die einer solchen Moral und ihren Trägern Respekt entgegenbringt. Identität ist also nicht etwas für eine Oberschicht von Gebildeten. Sie muss alle erfassen. Deswegen muss Bildung im emphatischen Sinne (nicht nur im Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen) ein Anspruch für jeden sein. So gesehen ist Bildung eine regulative Idee wie Identität, mehr also als ein bloßes Konstrukt.

Es wird nicht leicht sein, den Bildungsgedanken aufrechtzuerhalten. Schon gar nicht in der Konfrontation mit Kulturen, die teilweise in ihren Sprachen nicht einmal ein Wort für „ich“ besitzen, sondern in denen Menschen von sich in der dritten Person reden. Es wird dauern, bis das Ringen um Identität weltweit als ein Prozess verstanden wird, der lohnend ist. Oder bis verstanden wird, was Søren Kierkegaard meinte, als er schrieb: „Man will verzweifelt man selbst sein.“

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