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Ich sind viele. Die amerikanische Künstlerin Cindy Sherman inszeniert sich in immer neuen, verfremdeten Selbstporträts.

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Serie "Identitäten" - vierte Folge: Die Selbstsucher

Nirgendwo spielen wir mit unserer Persönlichkeit so sehr wie im Internet. Doch viele verstört das: Es gibt eine neue Sehnsucht nach Authentizität, schreibt die Kunsthistorikerin Charlotte Klonk im vierten Teil unserer Serie.

In der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte hat das Porträt als Identitätsstifter immer eine wichtige Rolle gespielt. Die einzigartige Erscheinung einer Person ist dabei allerdings über die meiste Zeit eine erstaunlich sekundäre Anforderung gewesen. Über viele Jahrhunderte war die Darstellung eines Menschen in seinem Bezug zur Welt als klar definierter Funktionsträger (etwa als Priester, Kaufmann oder Pilger im Mittelalter) oder als moralisch eindeutig klassifizierbarer Typus (etwa als Heiliger, Hure oder Edelmann in der Renaissance) wichtiger als die Erscheinung von unvergleichlicher Individualität.

Erst spät, um 1800, begann man vom Porträt zu erwarten, dass es einen Einblick in die unverwechselbare Persönlichkeit des Dargestellten gewähren könne. Die wunderbaren Charakterköpfe, die aus dem 16. und 17. Jahrhundert überliefert sind, von Künstlern wie Leonardo, Frans Hals und Rubens, zeigen alles andere als real existierende Menschen. Sie sind zumeist freie Studien, losgelöst von jeglichen Vorbildern in der Natur. Die Künstler konnten hier ungebunden ihre Ausdruckskraft und malerische Finesse zur Schau stellen. Und so sind die Bilder zwar Porträts, zeigen aber keine wirklichen Personen. Die Vorstellung nämlich, dass jedes Individuum psychisch wie physisch unvergleichlich und eine Einheit sei und dass dies im äußeren Erscheinungsbild zum Ausdruck kommen müsse, ist eine Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts, die sich noch dazu fünfzig Jahre später schon wieder verflüchtigte.

Am 15. Mai 1871 schrieb der französische Dichter Arthur Rimbaud in einem Brief an seinen Freund Paul Demeny: „ich ist ein anderer“. Damit brachte er schon etwas von der Entfremdung des Ichs zum Ausdruck, das mit der Psychoanalyse von Sigmund Freud im 20. Jahrhundert institutionalisiert werden sollte und schließlich in die Fragmentierung der Subjekte in der Kunst des 20. Jahrhunderts mündete. Ob nun der französische Avantgardekünstler Marcel Duchamp in den zwanziger Jahren in einer Fotoserie unter dem Pseudonym „Rose Sélavy“ als Frau erschien oder sich die amerikanische Fotografin Cindy Sherman in den achtziger Jahren in verschiedenen imaginären Filmrollen selbst inszenierte und das deutsche Multimediatalent Isa Genzken ihr Ich in Röntgenbildern suchte: Immer ging es darum, dass Identitäten nicht stabil sind, dass sie gesellschaftliche Konstrukte verkörpern oder ganz verschwinden können.

Was hier jedoch lediglich im Experimentalbereich der Kunst zum Ausdruck kam, ist spätestens seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts im allgemeinen Selbstverständnis angekommen. Die Virtualisierung der Wirklichkeit hat es mit sich gebracht, dass wir alle verschiedene Identitäten annehmen können. In der Welt des Internets kann niemand wissen, ob wir wirklich erfolgreich Bankmanager oder frühreife Lolitas sind, die mit alten Männern chatten.

Natürlich konnte man immer schon sein Leben mit anderen Augen erleben, im Roman oder Film zum Beispiel. Nie aber konnte man das Andere so unverwechselbar und einzigartig gestalten wie in Second Life oder in Facebook. Und obwohl zumindest Facebook eigentlich dem gegenteiligen Zweck dienen möchte – der Überführung realer Personen, ihrer Gesichter und der damit verbundenen Behauptung einer geschlossenen Identität in die virtuelle Welt – , erlaubt gerade dieses soziale Netzwerk das Spiel mit dem Selbst. Das zeigt der 2010 herausgekommene, viel beachtete amerikanische Dokumentarfilm Catfish.

In Catfish beschreiben die jungen Filmemacher Henry Joost und Ariel Schulman, wie Ariels Bruder Nev von einem achtjährigen Mädchen kontaktiert wird. Fasziniert von ihrer außergewöhnlichen Malbegabung, begibt sich Nev über Facebook in einen intensiven Austausch und lernt darüber auch die Familie kennen – in Fotos, in Chats und in gelegentlichen Telefonanrufen. Es entwickelt sich eine intensive Onlineliebesgeschichte mit der ebenfalls hochbegabten Halbschwester, die ein jähes Ende findet, als Nev entdeckt, dass viele der angeblich von ihr selbst komponierten Musikstücke Plagiate aus dem Internet sind. Schließlich erweisen sich auch die verführerischen Fotos der Familie als gestohlene Identitäten aus der Welt der frei verfügbaren Digitalbilder im Netz.

Nev und die beiden Filmemacher begeben sich alsdann auf eine Reise, um die Wahrheit hinter der Fiktion aufzudecken und treffen auf eine übergewichtige Frau namens Angela, deren wirkliches Leben alles andere ist als das der Facebook-Existenzen ihrer Fantasie. Es sei dahingestellt, ob der Film selbst eine Konstruktion ist. Die perfekte Dramaturgie lässt Zweifel an seinem dokumentarischen Anspruch aufkommen. Er macht jedoch deutlich, dass man im Zeitalter der sozialen Netzwerke im Internet nicht nur mit Menschen Kontakt hat, die man früher nie getroffen hätte, sondern auch nicht sicher sein kann, wer sich hinter den digitalen Identitäten wirklich verbirgt.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum wir die Suche nach Identität im Internet oft als Scheitern empfinden.

Die gestohlenen Fotos und Filmchen in Catfish zeigen noch real agierende Personen, wenn auch nicht die, für die sie ausgegeben werden. Aber auch hier gibt es bereits viel weitreichendere Möglichkeiten. Die Gesichtsanimationssoftware Image Metrics ist schon heute in der Lage, über ausgeklügelte Bildanalyse, umgesetzt in mathematische Algorithmen, jede noch so feine Muskelbewegung eines Gesichts auf ein beliebiges 3-D-Model zu übertragen und ihm somit ein Leben einzuhauchen, das es nie selbst geführt hat. Der Vorsitzende der kalifornischen Firma, Andy Wood, spricht dabei von Seelenübertragung: „Das Model besitzt die Seele des Schauspielers dessen Gesicht vorher gescannt wurde]. Sie schimmert förmlich durch“. Image Metrics erlaubt es, neue Szenen für alte Filme zu schaffen oder längst verstorbene Charaktere in neue Filme zu integrieren. Es erlaubt auch mit fiktiven, aber real scheinenden Personen im digitalen Leben neue Erfahrungen zu sammeln. Die Welt der kunstvollen, doch künstlichen Avatars aus Second Life wird damit womöglich bald der Vergangenheit angehören.

Angesichts dieser Entwicklung erscheint das Diktum des französischen Philosophen und Kulturkritikers Michel Foucault, dass das Subjekt verschwinden werde, „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“, nicht mehr so befremdlich wie noch 1966. Der Satz stand am Schluss seines berühmten Buches „Les Mots et les Choses“, das später unter dem deutschen Titel „Die Ordnung der Dinge“ erschien. Es waren die Jahre der Jugendkultur und sexuellen Freiheit, der Identitätssuche und Individualitätssehnsucht, in der jeder Gedanke an den Verlust von Subjektivität offensichtlich monströs wirken musste. Es war aber auch genau die Zeit, in der der amerikanische Popkünstler Andy Warhol Porträts anfertigte, in denen die Menschen hinter ihren Gesichtern schonungslos vernichtet wurden. Generationen von Künstlern folgten, die von nun an das Verschwinden des Subjekts in der Postmoderne geradezu zelebrierten.

Jetzt aber, wo diese Erkenntnis im Mainstream angekommen ist, wird deutlich, dass wir doch nicht anders können, als dieses Verschwinden grundsätzlich zu bedauern. Statt den Verlust als Erkenntnis zu feiern, wird die Sehnsucht nach authentischen Ichs gerade in jenem Medium wieder vernehmbar, in dem seine Existenz am stärksten auf dem Spiel steht. Sowohl in Catfish wie auch in den Animationen der Firma Image Metrics bleiben am Ende verstörende existenzielle Fragen stehen: Worauf kann ich mich verlassen? Wem oder was ist zu trauen?

Am Schluss des Films gibt es nur noch ein Ziel, das geradezu wie eine Erlösung gehandelt wird: Angela muss dazu bewegt werden, unter eigenem Namen und mit eigener Identität im Internet aufzutreten. Es bleibt aber offen, ob ihr das überhaupt möglich ist. Und Youtube-Kommentatoren von Image Metrics Demo CG Emily sind verstört: Man meint eine wirkliche Frau zu sehen, und doch stimmt etwas nicht. Die Illusion ist nach wie vor eben nur fast perfekt und damit umso unheimlicher.

Während also Foucault und andere das Verschwinden des Subjekts zum Requiem der Menschheit stilisierten, das zu hören am Ende des 20. Jahrhunderts geradezu Mode geworden war, offenbart sich mittlerweile in der virtuellen Welt der angenommenen Identitäten eine ältere Sehnsucht. Ganz offensichtlich geht es nicht mehr um abgeklärte Dekonstruktion oder reine Verweigerung der Versprechungen des Ichs. Anderseits ist aber auch kein naiver Glauben an authentischer Einzigartigkeit auszumachen.

Vielmehr zeigt sich der prekäre Spielraum, in dem seit jeher alle Identitätserwartungen entstehen. Statt Entdeckung von Wesenszügen, der dekonstruktiven Entlarvung von Leere, macht man bei der Suche nach Identität im Netz die Erfahrung des Scheiterns. Es ist ein Scheitern, das unsere Erwartungen im Umgang miteinander unter Umständen mit sich bringen: „Was heißen soll“, schreibt der Schauspieler, Dramatiker und Theoretiker Antonin Artaud, „dass das menschliche Gesicht, so wie es ist, sich noch immer sucht: mit zwei Augen, einer Nase, einem Mund und den beiden Ohrhöhlen“.

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