zum Hauptinhalt
Anverwandelt. Vielen ist es unheimlich, wie genau Internetportale ihre Nutzer zu kennen scheinen. Foto (Montage): Mauritius

© mauritius images

Serie "Identitäten" - zehnte Folge: Ferngesteuert, aber frei

Ob Google oder Partnerbörsen: Mathematische Modelle bestimmen unseren Alltag. Doch die Angst vor der Allmacht der Computer ist unbegründet, sagt der Mathematiker Günter M. Ziegler im zehnten Teil unserer Serie.

Große und wichtige Lebensbereiche werden heute von mathematischer Technologie bestimmt, sind ohne mathematische Methoden gar nicht denkbar. So gehört es in diesem Sommer zum Rüstzeug des Berliner Fahrradfahrers, sich Wetterprognosen anzuschauen, also mathematische Rechenergebnisse, und diese zu bewerten. Ist die Wetterlage stabil, kann man der Prognose trauen? „Stabil“ ist ein mathematisches Konzept, und zwar ein ziemlich kompliziertes.

Vor 30 Jahren war das noch nicht so. Wir haben gar nicht bemerkt, wie schnell Mathematik alltagsrelevant geworden ist. Aus der Schule erinnern viele Mathematik schließlich als etwas Nutzloses, Unpraktisches und Abstraktes, als etwas, das „weit weg“ ist. Andere fürchten, der Mensch werde längst von der Mathematik fremdbestimmt. Der „FAZ“-Mitherausgeber Frank Schirrmacher etwa beschreibt in Büchern (Payback, 2010) und Zeitungsbeiträgen (Macht der Simulation. Wenn Computer das Denken steuern) die schnell voranschreitende „Verwandlung des Menschen in Mathematik“.

Zumindest ein Teil dieser Diagnose ist richtig: Mathematik ist uns ganz nah. Wir recherchieren im Internet, verwenden dafür zum Beispiel Google als Suchmaschine, und die legt uns „relevante“ Suchergebnisse vor. „Relevanz“ ist dabei eine mathematisch-definierte Größe, PageRank genannt, Ergebnis einer „Eigenwertberechnung“, also höherer Vektorrechnung, auf die der Google-Gründer Larry Page am 4. September 2001, vor ziemlich genau zehn Jahren, ein US-Patent bekommen hat.

Inzwischen sind die Bewertungsverfahren von Google stark verfeinert und geändert worden. Sie werden aber immer noch mathematisch berechnet, dabei auch in Hinblick auf kommerzielle Interessen von Anzeigenkunden und anderen Akteuren optimiert und uns dann vorgelegt. Natürlich wird dabei Mathematik eingesetzt, um den Nutzer zu manipulieren. Also ist wichtig, dass wir eine grobe Vorstellung davon haben, was da passiert.

Wir sind heute vielfältig mit neuen mathematischen Technologien konfrontiert. Beim „Data Mining“ werden etwa Methoden der Statistik, Algebra und Optimierung kombiniert, um aus riesigen Datenmengen Muster zu identifizieren. Damit kann man sehr kleine Nadeln in sehr großen Daten-Heuhaufen finden. Das kann segensreich sein, etwa wenn es darum geht, Krankheitsursachen im Erbgut zu finden. Es kann aber auch nervig sein und überwältigend. Auf denselben Techniken beruhen die Vorschläge, die Amazon macht, und die auf dem Vergleich unserer Interessen und Daten mit denen von Millionen anderer Kunden basiert.

Dass in großen Wirtschaftsbereichen mathematische Methoden die Kontrolle übernommen haben, ist notwendig, weil große Netze und Systeme ohne mathematische Methoden nicht kontrollierbar und nicht optimierbar sind. Die Effektivität von Kommunikationsnetzen, Transportsystemen und Dienstleistungsangeboten beruht heutzutage ganz entscheidend auf Mathematik. Post und Bahn, Telekom, Börsen und Banken sind „mathematische Industrie“. Und wenn mit mathematischen Methoden zum Beispiel medizinische Operations- und Therapieplanung auf den Patienten individuell abgestimmt werden können, kommt uns das sehr nahe. Gerade in diesem Bereich wird übrigens auch Mathematik aus Berlin segensreich eingesetzt.

Aber jede Technologie, die etwas kann, kann auch missbraucht werden. Und sie kann besonders dann gefährlich werden, wenn sie von Akteuren eingesetzt wird, die sie nicht verstehen. Vor 25 Jahren etwa hatten wir noch einen Bundeswirtschaftsminister von der FDP, der im „Hörzu“-Interview nicht sagen konnte, wie viele Nullen denn eine Milliarde hat. Heutzutage werden an der Börse kaum mehr reale Werte (Gold, Rohstoffe, Unternehmen) gehandelt, sondern mathematische Konstrukte wie Optionen und Derivate, Versicherungen und Risiken. Der Wert dieser Konstrukte wird mathematisch berechnet. Der Handel damit wird von Computerprogrammen nach mathematischen Prinzipien gesteuert. Die Risiken, die das birgt, sind einerseits sehr sichtbar (wenn’s schiefgeht), andererseits aber auch nur mathematisch abschätzbar und begrenzbar.

Die Finanzindustrie ist also mathematische Industrie und auch nur mit mathematischer Kompetenz steuerbar. Hat die Politik genug Kompetenz dafür? Oder macht die am Ende die Mathematik verantwortlich für die Finanzkrise?

Die mathematischen Methoden, die so großen Einfluss auf unser Leben gewonnen haben, sind vielfältig. Man sieht ihnen kaum mehr an, dass sie auf klassischen mathematischen Teildisziplinen beruhen, wie Zahlentheorie, Geometrie und Algebra. Die liefern immer noch die Fundamente für alle moderne Mathematik. Viel sichtbarer sind aber neue mathematische Disziplinen, die dann computergestützt zum Einsatz kommen. Dabei geht es darum, Theorie in Algorithmen umzusetzen, in Berechnungsverfahren. Sie liefern Voraussagen – für das Wetter zum Beispiel. Sie liefern Entwürfe und Vorschläge etwa für die Optimierung von Verkehrsnetzen. Und sie liefern Risikoanalysen auch für Finanzmärkte.

Dabei hat Mathematik in Forschung und Anwendung große Verantwortung. Aber die Rechenergebnisse sind immer nur Vorschläge oder Prognosen: Bewerten, annehmen oder verwerfen müssen wir sie selbst. Denn anders als Frank Schirrmacher behauptet, nimmt uns Mathematik keineswegs die Entscheidungsfreiheit.

Anlässlich der Vulkanasche-Katastrophe im April 2010 polemisierte er in der „FAZ“, die Mathematik würde diktieren, was gemacht werden müsste: „Das hat damit zu tun, dass die Simulation ihre eigenen sozialen Algorithmen produziert. Der Ermessensspielraum liegt für alle beteiligten Behörden bei null. Es sind Menschen, aber im Grunde müssen sie handeln wie die Algorithmen, die bei der Finanzkrise eine Vielzahl von Marktreaktionen auslösten, weil es die Parameter erzwangen.“ Das ist pure Polemik, denn Parameter erzwingen gar nichts.

Wer mathematische Modellrechnungen als „Simulationen“ diffamiert, drückt sich um die eigentlich entscheidenden Fragen: Wie gut sind eigentlich die Prognosemodelle? Wie gut sind die Daten, reichen die aus? Stimmt die Numerik, wird richtig gerechnet? Sind die Ergebnisse plausibel, vertrauenswürdig? Können wir die Rechenergebnisse anhand realer Daten eichen und validieren? Diese Fragen zu beantworten ist die Aufgabe von Politik, sie muss auf Grundlage dieser Bewertungen Entscheidungen treffen.

Unheimlich kann man auch das Eindringen des Mathematischen in das Private finden. Ein Partnerschaftsportal, „bei dem über einen einfachen Logarithmus (sic!) Menschen zusammengeführt werden, die offenbar tatsächlich zueinander passen“? Schirrmacher beschwört die Gefahr, dies führe zu einem Anpassungsverhalten des Menschen gegenüber Maschinen. Das Staunen über die Möglichkeiten der Mathematik und ihrer Algorithmen ist hier berechtigt. Überraschend ist aber der Mangel an Selbstbewusstsein, der aus diesem Szenario der Angstmacherei spricht.

Verwandeln wir uns in Mathematik? Nein, wir sind nicht vorhersagbar, in der Partnerwahl nicht, in unseren Entscheidungen nicht und auch nicht bei Kaufentscheidungen. Die Horrorgeschichte, die immer wieder erzählt wird, bezieht sich auf die gigantischen Datenmengen, die Google, Facebook, Amazon, Yahoo, Telekom und andere über uns sammeln. Und aus denen sie mit mathematischen Techniken sehr viel Wissen über uns herausfiltern können. Und trotzdem läuft die Frage, welchen freien Willen man überhaupt noch habe, wenn alles durch Computer berechenbar sei, ins Leere, weil eben nicht alles berechenbar ist. Jetzt nicht und auch in Zukunft nicht.

Die Amazon-Kaufvorschläge illustrieren das. Amazon schlägt mir mein eigenes Buch zum Kauf vor, und dann eines von einem Autor, der von mir abgeschrieben hat. Schlägt mir weitere Bücher vor mit dem Wort Mathematik im Titel – wie originell. Und das beruhigt mich: Nicht ich bin berechenbar in meinen Interessen und Vorlieben, sondern die Algorithmen von Amazon sind sehr voraussagbar. Denen fällt nichts wirklich Neues ein. Mir manchmal schon.

Zur Startseite